Seibert: Das Jahr der Entlarvung
Von Theodor Seibert
Wider alles Erwarten, für uns ebenso überraschend wie für den Feind, haben die letzten Wochen des Jahres 1944 den großen deutschen Angriff in der Mitte der Westfront gebracht.
Schwerer seelischer Druck ist gelöst, bange Fragen nach dem Sinn unseres tapferen Ausharrens und nach dem Mass der verbliebenen Kraft sind beantwortet worden. Mit höher erhobenem Haupt tritt der Deutsche an die Schwelle des neuen Jahres, das deutsche Antlitz, seit langem von bitterem Trotz gezeichnet, ist freier geworden, ruhiger und gespannter zugleich.
Aber niemals werden aus ihm die harten Züge verschwinden, die dieses Jahr ihm eingemeißelt hat. Denn Ungeheures hat es uns abgefordert – nicht an kühnen, vorwärtsreißenden Taten, sondern an leidender Duldung, heißem Opfer und bloßem Glauben. Es war ein Jahr der Faustschläge, es hat uns nichts geschenkt. Es hat deutsche Armeen geschlagen, deutsche Städte in Skelette verwandelt, bis tief in die Dörfer des Binnenlandes griff der Terrortod. Ja, in manchem war dieses Jahr 1944 schlimmer als das Jahr 1918 des ersten Weltkrieges: damals standen unsere Waffen noch weit draußen in Feindesland, damals war die ganze Heimat unversehrt, wusste das Volk in seiner nichtkämpfenden Masse nichts von Feuer und Tod. Heute hausen Bolschewisten im ostpreußischen Grenzraum, heute dröhnt der Geschützdonner am Rhein, heulen Bomben und pfeifen Bordwaffen durch alle deutschen Gaue. Und damals wie heute stürzte, was feige und schwächlich ist, warfen sich Bundesgenossen von gestern dem Feind an den Hals, schrumpfte Europa auf seinen Kern zusammen.
Aber der Kern ist anders geworden. Dem 9. November 1918 entsprach der 20. Juli 1944. Am 9. November 1918 siegten Feigheit und Verrat, denn unser Volk ließ Feiglinge und Verräter gewähren, mürbe geworden, an Herz und Seele gelähmt, entnervt durch die Ratlosigkeit seiner Führung, ohne Ahnung und Vorstellung von Form und Art seines künftigen Lebens. Am 20. Juli 1944 hat dieses gleiche – dieses andere Volk die Verräter und Feiglinge mit kaum mehr als einer verächtlichen Handbewegung weggewischt, an den Galgen gehängt, ausgelöscht, und sich mit verdoppelter Wut und Energie in den Kampf geworfen. Gegen Ende des Jahres 1918 war Deutschland ein formloser, gärender Brei, am Ende des Jahres 1944 ist Deutschland sowie je die Schrecken seiner Feinde.
Wir stehen. Wir bluten aus vielen Wunden, aber wir stehen. Wir sind von Bitterkeit erfüllt, aber wir stehen. Wir spüren die tödliche Gefahr überwach, mit gespannten Sinnen, aber wir stehen. Man hat uns den leichtfertigen Optimismus der ersten Jahre blutig ausgetrieben, aber wir stehen. Stehen wir nicht? Fragt die Tommies von Arnheim und die Yankees an der Rur, lest die Londoner und Neuyorker Blätter, hört euch die Drum herumreden in den angelsächsischen Parlamentsbuden an – dann wisst ihr, wie sehr der Feind der Meinung ist, dass wir stehen! Und wir stehen nicht nur – wir schlagen zurück.
Unser unbeugsames Kämpfen ist kein Wunder. Es gibt keine Wunder. Auch das berühmte Marnewunder hat sich als etwas sehr Natürliches entpuppt, als Nervenpanne des körperlich und seelisch kranken Mannes, der damals deutscher Generalstabschef war. Der Feind ist immer noch in Übermacht, hat mehr Flugzeuge, mehr Panzer und Kanonen, mehr Fabriken, mehr Rohstoffe und mehr Menschen als wir. Aber wir sind, mit den treugebliebenen Teilen der verbündeten Europäer, immer noch mehr als 100 Millionen und die Japaner mit den ihren sind weitere 100 Millionen. 200 Millionen Menschen in Bedrängnis zu bringen – gewiss war das möglich. 200 Millionen Menschen kleinzukriegen, willenlos zu machen, zum Selbstmord zu bewegen – das ist ein anderes Wort! Das geht nicht, wenn sie nicht wollen. Und wir wollen nicht, die Japaner wollen nicht. Selbst wenn es uns nicht wieder und wieder gelänge, durch neue Waffen auch die materielle Übermacht des Feindes auszugleichen, selbst dann würde ihn die Überwindung dieses Willens ungeheure Opfer kosten. Opfer, die er weder seelisch noch physisch ertragen könnte. Die britische und die Sowjetmacht zum mindesten würden dabei selbst vor die Hunde gehen. Und sie beginnen es zu ahnen.
1918 haben wir halb gewollt: Der Feind war nicht nur der Stärkere gewesen, gemessen an Menschen und Waffen, er hatte uns auch etwas anzubieten. Mit Engelszungen pries er uns jene wunderbare Staats- und Lebensform der Demokratie, die wir noch nicht kannten, auf die wir neugierig waren. Und nur die bösen Autokraten, die uns regierten, sollten bestraft werden, uns selbst, dir und mir, wollte er gar nichts tun, versprach er ein Leben in Frieden, Schönheit und Würde, wenn… wenn wir die Waffen niederlegten, dort, wo wir gerade standen. Niemand riet uns, nein zu sagen, kein Kaiser, kein Kanzler, kein Feldherr. Und dann, in Compiègne und Versailles war es zu spät.
Dies war der gewaltige Vorteil des Feindes im Jahre 1918: dass seine Versprechungen, sein guter Wille, seine schöpferischen Fähigkeiten, sein Zukunftsbild erst geprüft werden konnten, als er „gesiegt“ hatte, als ihn niemand mehr zur Rechenschaft zu ziehen vermochte! Daß wir, mit anderen Worten, die Katze im Sack gekauft haben. Dass er nicht die kleinste Probe aufs Exempel leisten musste, bevor wir die Waffen wegwarfen.
Auch diesmal, in den zweiten Weltkrieg, hat der Feind versucht, den alten Trick aufs neue anzuwenden, versucht, uns aus dem Krieg herauszuschwatzen, herauszugraulen. Mit Versprechungen sowohl – die „Atlantik-Charta“ glich Wilsons 14 Punkten – wie mit Drohungen. Zu Beginn der Invasion ging ein wahrer Tornado von Propaganda über Europa nieder, der nach dem Dammbruch von Avranches im Hochsommer seinen Höhepunkt erreichte. Nicht ohne Erfolge: Damals war es, als die Berliner Juliputschisten ihren schamlosen Versuch machten, den November 1918 zu kopieren.
Der Feind hat sehr wohl gewusst, warum er die Entscheidung, das heißt die deutsche Kapitulation, in diesem Sommer mit allen Mitteln zu erzwingen versuchte: weil seinen Führenden davor graute, beim Wort genommen zu werden, zeigen zu müssen, wie die „Befreiung“ in Wirklichkeit aussah, beweisen zu müssen, dass es ihm mit den „vier Freiheiten“ ernst war, überführt zu werden in der Frage, ob der bolschewistische Wolf sich in ein demokratisches Lamm verwandelt hatte, wie er behauptete. Diese für Europas Leben entscheidende Prüfung erst ablegen zu müssen, wenn kein Europäer in Waffen mehr imstande sein würde, auf ihr Ergebnis handelnd zu reagieren – darauf war alles Sinnen und Trachten des Feindes gerichtet. Die Kriegsmüdigkeit seiner Völker, Roosevelts Wahlschmerzen, die Furcht vor Deutschlands neuen Waffen, all das spielte nur eine zweite Rolle.
Unsere Beharrlichkeit, unser stures Nein, unsere Standfestigkeit haben den Feind zur Selbstentlarvung gezwungen. Wir sind der bestimmten Meinung, dass die künftigen Geschichtsschreiber die alliierten Waffensiege des Jahres 1944 als die eigentliche Ursache des Untergangs der Demokratie bezeichnen werden, weil sie viele Länder unseres Erdteiles ihren „Segnungen“ öffneten, ohne den Endsieg gleichzeitig herbeizuführen. Weil sie, anders ausgedrückt, über hundert Millionen noch bewaffneter Europäer zu Augenzeugen dieser kompromittierenden Selbstentlarvung machten:
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Der Feind hatte den zu Befreienden Brot versprochen - In Italien, Frankreich, Belgien, Südholland, Finnland, Griechenland herrscht mehr Hunger als jemals während dieses Krieges.
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Der Feind hat den zu Befreienden Ordnung versprochen – In Italien, Frankreich, Belgien herrscht wüstes Parteien- und Bandenchaos, in Griechenland offener Bürgerkrieg, gespeist von britischen Bomben und Granaten.
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Der Feind hat den zu Befreienden Souveränität und Selbstbestimmung versprochen – Finnland, Rumänien, Bulgarien, Ostpolen und die Baltenvölker versinken Schritt um Schritt tiefer in vollständige bolschewistische Sklaverei, in Rom diktieren die Briten in Konkurrenz mit den Bolschewisten die Ministerlisten, in Frankreich vermag sich der „Befreier“ de Gaulle nur durch mühsamen Eiertanz zwischen London, Moskau und Washington zu halten.
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Der Feind hat den zu Befreienden Freiheit von Furcht versprochen – In allen „befreiten“ Ostländern herrscht das System des Genickschusses und der Deportation, in Süditalien meuchelt der rote Mob die Missliebigen auf offener Straße, in Frankreich sind die Gefängnishöfe rot vom Blut der mit und ohne Gericht Erschossenen, die bereits nach Zehntausenden zählen.
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Der Feind hat den zu Befreienden Frieden versprochen – Sämtliche feindbesetzten Länder haben in den kurzen Wochen seit ihrer „Befreiung“ mehr Wohnstätten und Kulturdenkmäler in Schutt und Asche sinken sehen als während der langen Jahre der deutschen Offensiven und der deutschen Besetzung, und ihre Söhne bluten heute als Söldner in den englisch-amerikanisch-bolschewistischen Heeren.
Ein weniges unter diesen furchtbaren Enttäuschungen ist kriegsbedingt, ist Folge des fortgesetzten Kampfes. Das meiste ist endgültige, auch für die Zukunft gültige Entlarvung: endgültig ist die Entschlossenheit der westlichen Befreier, die „Befreiten,“ soweit das in Feindesmacht liegt, für immer unter militärischer Botmäßigkeit zu halten, ihnen Staats- und Regierungsform vorzuschreiben, sie wirtschaftlich auszubeuten, ihnen zu diktieren, was recht und unrecht, Gut und Böse, erlaubt und unerlaubt ist. Endgültig ist ferner, dass kein Land, das von Sowjettruppen besetzt ist, jemals eine andere Staats- und Lebensart erträumen kann als die bolschewistische. Obwohl der Krieg weitergeht und mithin Moskau allen Anlass hätte, das Spiel zu tarnen, geht es brutal über alle taktischen Bedürfnisse seiner westlichen Kumpane hinweg, wie das polnische Beispiel eindeutig erwies. Die Demokratie hat mithin erst recht keine Chance, das Rad der Entwicklung zurückzudrehen, wenn der einzige Hemmschuh moskowitischer Willkür, Deutschland, ausgeschaltet werden würde.
Wohl aber kann sie sich heute, nach den Erfahrungen in Frankreich, Belgien, Italien und Griechenland, an den fünf Fingern abzählen, daß selbst in ihren eigenen „Reservaten“ früher oder später die Vorposten Moskaus in Gestalt der kommunistischen Parteien das Heft in die Hand bekommen werden. Nur ein Mittel gäbe es gegen diese Gefahr – Krieg gegen die Sowjetunion, dritter Weltkrieg!
Das sind alte deutsche, nationalsozialistische Thesen. Das Jahr 1944 aber hat sie unverbrüchlich gemacht, denn es hat die praktischen Beweise für sie geliefert. Und der Feind weiß das nicht nur – er spricht es, da und dort, mit ängstlicher Vorsicht, aber doch deutlich aus. Er kann nichts mehr verbergen, nichts mehr beschönigen, nicht mehr auf die Zukunft vertrösten. Dass Deutschland nicht kapituliert hat, als es noch in Brest und Neapel, in Athen und vor Leningrad stand, ist ungeheuer peinlich für den Feind. Er weiß heute, wie teuer ihm seine politische und militärische Fehlspekulation zu stehen kommen wird. Uns aber bürgen die vielseitigen Geschehnisse und Erfahrungen dieses schweren Jahres dafür, dass wir auf dem einzig richtigen, einzig möglichen Wege sind, bürgt sein stolzer Abschluss für die Zukunft.