Das Verbrechen von Saint-Lô
Von Kriegsberichter Fritz Zierke
pk. …, 14. Juni –
Wir haben den Krieg in vielen seiner Schrecken kennengelernt – nicht nur die äußersten körperlichen und seelischen Zerreißproben, vor die er den Soldaten stellt, sondern auch das unmenschliche Ausmaß der Not, das er nach dem Willen unserer Feinde über die früher vom Gewitter der Schlachten verschonte Zivilbevölkerung brachte. Wer vor den Ruinen der Städte stand, in denen für uns Deutschlands Herz am lebendigsten schlug, wer im Sturm der Bombennächte sah, wie Mütter, dem Wahnsinn nahe, nach ihren verschütteten Kindern suchten, der durfte wohl glauben, den Gipfel der Verworfenheit erkannt zu haben, deren die demokratischen Menschheitsapostel fähig sind. Heute, unter dem unmittelbaren Eindruck einer kalten Vernichtungsorgie, für die selbst ein britisches oder nordamerikanisches Hirn auch den Schatten einer Erklärung schuldig bleibt, einer Szene, die noch immer kein Ende finden will, scheint mir, als offenbare sich, alles Voraufgegangene überbietend, erst in diesen Stunden die letzte Abgründigkeit der anglo-amerikanischen Barbarei. Es ist, als spräche die Invasion, die über den Ausgang dieses Krieges entscheiden soll, auch das letzte Urteil über Wert und Unwert der Völker.
Wir stehen inmitten dessen, was ehedem die normannische Stadt Saint-Lô war, der Hauptort des Departements Manche. Sie zählte nicht zu den eigentlichen Sehenswürdigkeiten des Landes, aber wer den leisesten Sinn besaß für schlichte und anspruchslose Schönheit, für den Reiz eines friedsamen, halb ländlichen Gemeinwesens, der fühlte hier, inmitten einer vom Krieg durchtobten Welt, den Geist einer freundlicheren menschlichen Denkart noch wirksam. Es war, als hätte der Krieg Saint-Lô kaum berührt – vielleicht war es sogar ein bitterer Irrtum der Bevölkerung, daß sie die Zeichen der Zeit so wenig erkennen wollte. Denn als nun ihre Stadt am ersten Tag des Invasionsunternehmens zum erstenmal das Ziel der amerikanischen Bomber wurde, da waren die Folgen umso grausiger, als die wenigsten Menschen sich wirklichkeitsnahe auf diese Stunde eingestellt hatten. Wenn ihnen tatsächlich Unheil drohe, so rechneten sie, so könnte man seine Richtung vorauserkennen. In der Stadt selbst befanden sich keine Ziele, die einen Großangriff gelohnt hätten. Der Bahnhof – übrigens auch nur an einer Nebenstrecke gelegen – war von der eigentlichen Stadt auf einer Höhe über dem Viretal so weit abgesetzt, daß ein Angriff auf seine Anlagen nur für das Viertel in seiner Nachbarschaft bedrohlich erscheinen mochte. Und wenn die Invasoren es darauf ablegen sollten, die Hauptdurchgangsstraßen aufzureißen, um deutsche Truppenverschiebungen zu erschweren, so konnten sie das – wenn man bei ihnen auch nur die geringste Neigung einer menschlichen Kriegführung voraussetzte – sehr gut an den Ausgängen der Stadt tun.
So mochte ein großer Teil der Bevölkerung von Saint-Lô denken, als in den Nachmittagsstunden des Dienstags die erste Bomberwelle erschien. Schon sie säte Vernichtung und Tod inmitten des Stadtkerns, so daß wenigstens in diesem letzten Augenblick noch einige Tausende der jählings erwachenden Bevölkerung die Flucht in die benachbarten Dörfer suchten. Die zurückblieben, bezahlten ihren Mut mit einem furchtbaren Preis: in der folgenden Nacht kamen die Amerikaner wieder, diesmal in Massen, und binnen einer halben Stunde löschten sie aus, was einst die Heimat von 20.000 Franzosen gewesen war. Man sucht in der Stadtmitte vergeblich nach Häusern und Straßen. Ein einziges Trichterfeld in einer mehrfach durchwühlten Schutthalde deckt die Fläche, wo früher die bescheidenen Behausungen friedlicher Kleinbürger und die Bauten des öffentlichen Lebens standen. Aber selbst in diese Landschaft der Verwüstung fallen weiter die todbringenden Würfe der angeblichen Freunde Frankreichs.
Zu jeder Tages- und Nachtzeit zieht es die Mörder an die Stätte ihres Verbrechens zurück – und wenn die Sommersonne die Schwaden der Brände durchdringt und der Wind der Feuersbrünste den Rauch verscheucht hat, dann jagen die Banditen der Luft, wie wir es aus Deutschland kennen, mit Maschinengewehr und Bordkanonen die armseligen Menschen, die in der Tatenlosigkeit der Verzweiflung auch jetzt noch in ihrer zerstörten Vaterstadt blieben und im Schutt ihres ehemaligen Glücks nach einigen Splittern seiner Scherben suchen. Wie viele Menschen unter den Massen von Stein und Staub begraben liegen – wer könnte das heute schon sagen?
Was hier von Saint-Lô berichtet wurde, gilt fast ohne jede Abwandlung von vielen anderen französischen Städten im weiten Umkreis des Bereiches, den die Befehlshaber dieser Gangster für ihr Invasionsunternehmen ausersehen haben. Wenn ihre Operationen bereits in den ersten Tagen, während die Dinge noch in der Entwicklung sind, ganz anders verliefen, als sie gerechnet hatten, in einem haben sie ihr Programm mit einer Gründlichkeit durchgeführt, die selbst Stalin Ehre machen würde: von den Reichtümern der Normandie, von ihren vielen, vom Zauber einer reichen Vergangenheit umsponnenen Städten, sind die schönsten nur noch die Skelette ihrer selbst. Verwüstung, Feuer und Mord begleiten als apokalyptische Reiter die „Kreuzfahrer des amerikanischen Jahrhunderts.“