Wiener Kurier (August 26, 1946)
Nürnberger Prozeß geht dem Ende entgegen:
Die „letzten Worte“ der Angeklagten werden kurz sein
Nürnberg (AND.) - Während im Verhandlungssaal des Nürnberger Gerichtshofes die Verteidigung Berge von Dokumenten zur Entlastung der als verbrecherisch angeklagten Organisationen vorlegt, beschäftigen sich die Angeklagten mit der Vorbereitung ihrer „letzten Worte“, die das Gericht ihnen vor der Urteilsberatung eingeräumt hat. Da viele der Angeklagten diese Gelegenheit noch einmal benützen wollten, um längere Reden zu halten, sah sich Oberrichter Lawrence genötigt, darauf hinzuweisen, daß diese letzten Worte, die von der Anklagebank aus gehalten werden, sich auf einige Minuten beschränken müssen und auf keine Dinge bezugnehmen dürfen, die schon von ihnen oder ihren Anwälten vorgebracht wurden.
Göring weiß noch nicht, was er sagen wird
„Göring ist impulsiv und Stimmungen unterworfen“, erklärte sein Verteidiger Doktor Stahmer. „Wir haben zwar verschiedene Möglichkeiten besprochen, sind uns aber noch nicht klar, was er sagen wird. Das entscheidet sich erst im letzten Augenblick. Aber seine letzten Worte werden kurz sein.“ Er habe es als besondere Fairneß des Gerichtes empfunden, fügte Dr. Stahmer hinzu, daß der Angeklagte Göring vor einigen Tagen noch einmal Gelegenheit hatte, als Zeuge in eigener Sache auszusagen.
Dr. Alfred Seidl, der Verteidiger des Angeklagten Heß, wies darauf hin, daß der ehemalige „Stellvertreter des Führers“ die Zuständigkeit des Gerichtes abgelehnt habe. „Ich und seine Kameraden auf der Anklagebank“, sagte Dr. Seidl, „haben versucht, auf Heß dahin einzuwirken, daß er auf die Abgabe einer Erklärung verzichtet.“
Ribbentrop bemüht sich sehr
Auch Ribbentrops Schlußworte stehen noch nicht fest, wie sein Verteidiger Dr. Martin Horn mitteilte. Der ehemalige Außenminister bereitete einen Entwurf von 150 Seiten (was einer Sprechzeit von mehreren Stunden entsprechen würde) vor und hat sich nach den Worten seines Anwalts „sehr bemüht“.
Der Angeklagte Keitel dagegen wird sich nach Mitteilung Dr. Neltes wesentlich kürzer fassen als sein Banknachbar Ribbentrop. Keitel, der ursprünglich eine Polemik entwickeln wollte, wird auf Anraten seines Anwalts wahrscheinlich nur fünf bis zehn Minuten allgemein über sein Bild im Spiegel der Anklage sprechen.
Rosenberg ist nicht mehr für große Worte
„Ein großes Wort wird Rosenberg niemals fertigbringen. Dazu ist er noch zu sehr in seiner nationalsozialistischen Ideologie verankert” sagte Dr. Alfred Thoma, der dem Angeklagten vorgeschlagen hat, hauptsächlich zu dem Anklagepunkt des Genocidium (Völkermord) Stellung zu nehmen. „Nicht nur die physische und biologische Vernichtung eines Volkes, sondern auch die Entfernung seiner kulturellen und geschichtlichen Grundlagen, zum Beispiel seiner Bibliotheken, die vom französischen Hauptankläger als Sünde wider, den Geist bezeichnet wurden, fallen unter diesen Begriff“, erklärte Dr. Thoma.
Seyß-Inquart und Frick versuchen es noch
Kurze Erklärungen werden nach Meinung ihrer Verteidiger die Angeklagten Raeder, Kaltenbrunner, Funk, Neurath, Schacht, Papen, Speer und Fritsche abgeben, während Seyß-Inquart seinem Verteidiger Dr. Steinbauer einen 73 Seiten starken Entwurf über seine letzten Worte überreichte.
Auch der Angeklagte Frick, der bekanntlich nicht im Zeugenstand erschien, will in einer ausführlichen Erklärung eine Darstellung seiner Bekanntschaft mit Hitler geben, wie sein Verteidiger Dr. Otto Pannenbecker mitteilte.
Streicher soll sich anständig benehmen
Rechtsanwalt Dr. Hans Marx hingegen hat seinem Klienten Julius Streicher geraten, „sich möglichst anständig zu benehmen“ und nicht länger als zehn Minuten zu sprechen.
Was die einzelnen Angeklagten wirklich zu sagen haben werden, kann natürlich nicht vorausgesehen werden, da ihre Anwälte sie in dieser persönlichen Angelegenheit nur beraten und ihnen keine Vorschriften machen können. Es bleibt daher abzuwarten, ob einer der Angeklagten ein Schlußwort findet, das nach Meinung Dr. Thomas wie folgt lauten müßte:
„Wir haben gesündigt und wir warnen das deutsche Volk davor, vom Nationalsozialismus noch etwas zu erwarten. Hitler hat die Gelegenheit zu einem abschließenden Wort nicht ergriffen und ist als Privatmann in die Dunkelheit verschwunden.“