Wiener Kurier (July 18, 1946)
Schirach hat acht Millionen junge Menschen irregeleitet
Nürnberg (AND.) - Dr. Sauter, der Verteidiger Schirachs, schilderte gestern diesen Angeklagten als „Opfer seines Idealismus, seiner Treue zu Hitler“ und andererseits auch als ein „Opfer der Gewaltpolitik Himmlers, Goebbels und Bormanns.“
Sauter, der ständig vom „jungen Schirach“ sprach, der angeklagt ist, als ehemaliger Führer der Hitlerjugend den Geist der deutschen Jugend vergiftet und sie für einen Angriffskrieg ausgebildet zu haben, versuchte diesen als bloßen Jungen darzustellen, der, wie so viele ältere und erfahrene Deutsche, von der Macht der Persönlichkeit Hitlers hingerissen und geblendet wurde.
Schirach sei schon zur Zeit seiner Kindheit zum Nationalsozialismus „hingezogen“ worden und die Lektüre im Elternhause habe ihn frühzeitig zum Antisemiten gemacht.
Nur Himmler und Bormann waren Hitlers Freunde
Zu den einzelnen Anklagepunkten führte Dr. Sauter aus, sein Mandant sei an der Verschwörung der Naziführer nicht beteiligt gewesen, denn Hitler habe keinerlei Rat von ihm angenommen und habe außer Himmler und Bormann keine Freunde besessen. Dr. Sauter gab im übrigen zu, daß Schirach Hitler „bedingungslos“ gefolgt sei. Heute wisse Schirach jedoch, daß er „bis zum Ende einem Manne treue Gefolgschaft leistete, der diese nicht verdiente“. Schirach würde sich jedenfalls als „Opfer seiner politischen Überzeugung“ betrachten, falls man ihn deshalb verurteile.
Schirach will jetzt ‚umerziehen‘
Der Verteidiger befaßte sich anschließend in längeren Ausführungen mit der Erziehung der Hitlerjugend und erklärte, diese habe für Übungszwecke „weder Kanonen noch Panzer“, sondern nur Kleinkalibergewehre verwendet.
Im übrigen möge sich der Gerichtshof bei der Beurteilung dieses Falles daran erinnern, daß der Angeklagte bei seiner Einvernahme Hitler als Mörder bezeichnet und in aller Öffentlichkeit den Versuch unternommen habe, echt Millionen ehemaliger Hitlerjungen von der Ideologie zu befreien, die er selbst der deutschen Jugend jahrelang eingeimpft hatte. Schirach wolle der deutschen Jugend offen erklären, daß „er sie unwissentlich und mit den besten Absichten vom richtigen Wege abgeführt hatte und daß sie nun eine andere Richtung einschlagen müsse, wenn das deutsche Volk und die deutsche Kultur nicht untergehen sollen“.
Er will Legendenbildung verhindern
Nach der Kapitulation habe sich Schirach zunächst in Tirol versteckt, jedoch auf Grund einer Radioverlautbarung der Alliierten, daß die deutschen Parteiführer vor Gericht gezogen würden, sofort freiwillig gestellt, um die volle Verantwortlichkeit für die Schaffung der Hitlerjugend auf sich zu nehmen.
„Diese Handlungsweise“, erklärte Dr. Sauter, „sollte bei Beurteilung der Persönlichkeit des Angeklagten in Rechnung gestellt werden. Schirach ist vielleicht der einzige der Nürnberger Angeklagten, der seine Verfehlung nicht nur einsieht, sondern diese auch offen bekannt hat.
Durch das freimütige Eingeständnis seines Irrweges habe Schirach die Möglichkeit einer künftigen Legendenbildung um die Hitlerjugend verhindert.
In den folgenden Ausführungen seines Plädoyers führte Dr. Sauter noch aus, Schirach habe als Gauleiter von Wien „seine Hände niemals mit Blut befleckt“. Nach dem Jahre 1943 habe Hitler sogar erwogen, ihn zu verhaften, weil Schirach in einem Schreiben an Bormann den Krieg als ein „nationales Unglück für Deutschland“ bezeichnete.