Wiener Kurier (June 19, 1946)
Papen half den Anschluß Österreichs in Berchtesgaden erzwingen
Nürnberg (AND.) - Der Angeklagte Papen sagte gestern, daß Hitler bei den Besprechungen mit Schuschnigg in Berchtesgaden ein Programm vorgelegt habe, in dem unter anderem die Besetzung des Oberbefehlshaberpostens der österreichischen Armee mit General Glaise-Horstenau und wirtschaftliche Forderungen vorgesehen waren. Papen bemerkte noch, er habe am Abend zu Schuschnigg gesagt, daß es für ihn günstig wäre, auch den Rest der Bedingungen anzunehmen, damit die friedliche Entwicklung der Dinge nicht gestört werde.
Papen brachte Berichte über Österreich in die Schweiz
Während der gestrigen Verhandlung des Nürnberger Prozesses bekam der Angeklagte Franz von Papen Gelegenheit, Vorgeschichte und Geschichte des „Anschlusses“ zu schildern. Am 4. Februar 1938, erklärte Papen, habe er von Hitler seine Abberufung als deutscher Gesandter in Wien erhalten und habe dies auch dem österreichischen Außenminister sofort mitgeteilt. Die Entwicklung sei ihm so ernst erschienen, daß er auch sofort alle Berichte über seine vierjährige Tätigkeit in Wien nach der Schweiz bringen ließ.
Der Angeklagte betonte, daß die von ihm zustande gebrachte Unterredung zwischen Hitler und Schuschnigg kein festes Programm zur Grundlage gehabt hätte. Sie hätte nur auf dem Boden des Juli-Vertrages, das heißt, der Erhaltung der Souveränität Österreichs, basieren sollen. Konkret sei lediglich die Einschaltung eines Ministers für die Beilegung der Konflikte mit der „nationalen Opposition“ genannt worden. In diesem Zusammenhang sei auch der Name Seyß-Inquart in bezug auf das Innenministerium erwähnt worden.
Papen gab zu, daß er auf der Reise nach Berchtesgaden Schuschnigg die Mitteilung gemacht habe, daß er eventuell einen oder mehrere Generale dort vorfinden werde. Die Unterredung zwischen Schuschnigg und Hitler sei zwar anders gewesen, als es sonst im diplomatischen Leben üblich ist.
Hitler warf Schuschnigg vor, kein deutscher Mann zu sein und keine nationalen Gefühle zu besitzen. Die von Schuschnigg angesetzte Volksabstimmung, setzte Papen fort, sei für ihn eine „vollkommene Überraschung“ gewesen. Am Abend des 10. März sei er telephonisch von dem Befehl Hitlers in Kenntnis gesetzt worden, sofort nach Berlin zu kommen. Hitler habe vielleicht das Gefühl gehabt, daß seine Anwesenheit in Wien störend wirken werde.
Hitler bezeichnete Schuschnigg als Verräter
Als er am Morgen des 11. März bei Hitler vorsprach, habe ihm dieser, wie Papen erklärte, zugerufen: „Die Lage in Österreich ist unerträglich geworden. Herr von Schuschnigg verrät die deutsche Idee. Auf diese Zwangsabstimmung können wir uns nicht einlassen. Entweder wird das Plebiszit abgestellt oder die österreichische Regierung muß abtreten.“
Göring habe dann nach Wien telephoniert und gegen fünf Uhr nachmittag wäre eine Meldung aus Wien gekommen, der zufolge die Regierung Schuschnigg zum Rücktritt bereit war. Auf sein Drängen, sagte Papen, habe darauf Hitler die militärischen Befehle zunächst zurückgenommen, jedoch sofort wieder in Kraft gesetzt, als eine Stunde später die Nachricht kam, daß Bundespräsident Miklas sich geweigert habe, eine Regierung Seyß-Inquart anzuerkennen.
Der Angeklagte erklärte sodann dem Gericht wörtlich: „Abend um zehn Uhr hieß es am Telephon, die österreichische Regierung hat gebeten, Truppen zu schicken, da man sonst der Situation nicht mehr Herr werden könne. Hierauf ist der Einmarsch erfolgt. Wir standen unter dem Eindruck, daß diese Nachricht aus Wien kam. Ich war von der Entwicklung aufs tiefste erschüttert, da sie den allerschlechtesten Eindruck hinterlassen mußte.“
Papen gab zu, daß Hitler ihm nach dem Einmarsch in Österreich das Goldene Parteiabzeichen verliehen habe. Er hätte diese Ehre nicht ablehnen können, um seine Lage nicht noch weiter „zu verschlimmern“.
Wegbereiter der nationalen Revolution
Der britische Anklagevertreter Sir David Maxwell-Fife eröffnete dann das Kreuzverhör mit dem Angeklagten von Papen. Sir David erinnerte den Angeklagten, daß eine Rede, welche dieser im November 1933 in Essen gehalten hatte und in der er unter anderem sagte: „Seitdem die Vorsehung mich berufen hat, Wegbereiter der nationalen Revolution zu sein“ und: „Wie ich bei der Übernahme der Kanzlerschaft geworben habe, um der jungen, Freiheitskämpfenden Macht den Weg zu ebnen“!
„Was taten Sie eigentlich nicht alles“, erklärte Sir David dem Angeklagten, „um der Freiheitsbewegung den Weg zu ebnen! Sie haben Hitler zweimal angeboten, in die Regierung einzutreten, Sie haben Hindenburg mit den Nationalsozialisten zusammen gebracht. Waren Sie wirklich der Ansicht, daß eine nationalsozialistische Regierung für Deutschland notwendig war?“ Papen: „Nach dem Wahlergebnis war eine andere Lösung nicht mehr möglich.“
Sir David: „Gab es ohne dieses Wahlergebnis für Sie noch andere Gründe, Hitler in die Regierung zu ziehen?“ Als Papen dies verneinte, hielt ihm der Ankläger seine eigenen Äußerungen entgegen: „Lieber Gott, du hast Deutschland gesegnet, du hast ihm einen Führer gegeben, der es über alle Gefahren hinweg in eine glückliche Zukunft führt.“
Oberrichter Jackson bleibt im Amt
Oberrichter Robert Jackson, Mitglied des Obersten Bundesgerichtshofes der Vereinigten Staaten, dementierte gestern die Nachricht, daß er angeblich beabsichtige, als amerikanischer Hauptanklagevertreter im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß zurückzutreten.
Jackson erklärte einem Vertreter der Associated Press, daß er um den 15. Juli von Nürnberg nach den Vereinigten Staaten abreisen werde, da seine Aufgabe hier erfüllt sei. Er würde jedoch Mitte September zurückkehren, wenn die Urteilsfällung durch den Gerichtshof erfolgen wird. Seine Abreise, so betonte er, bedeute jedoch auf keinen Fall einen Rücktritt.