Wiener Kurier (April 12, 1946)
Kaltenbrunners Rechnung: 99 Prozent aller in Österreich für Anschluß
Nürnberg (AND) - Ernst Kaltenbrunner, der in der Donnerstagmorgensitzung als Zeuge in eigener Sache aufgerufen wurde und dessen Name unlöslich mit den in den Konzentrationslagern verübten Schandtaten verbunden ist, antwortete auf Fragen seines Verteidigers, daß ihm weder die Morde an der Zivilbevölkerung durch die Einsatzstäbe, noch über die Erschießung 15 amerikanischer Fallschirmspringer im Konzentrationslager Mauthausen, noch über Befehle zur Erschießung gefangener jüdischer Soldaten das ge[…]uste bekannt sei.
Kaltenbrunner behauptete ferner, die Volksabstimmung in Österreich am […] April 1938, in der 99 Prozent aller Stimmen für den Anschluß abgegeben wurden, habe […] Willen des österreichischen Volkes dargestellt, Österreich unter allen Umständen dem Reich anzugliedern.
„Ich möchte erklären, daß ich mir der Schwere der gegen mich erhobenen Vorwürfe voll bewußt bin“, begann Kaltenbrunner seine Ausführungen. „Ich weiß, daß sich der Haß einer Welt gegen mich stellt, der ich, zumal da Himmler, SS-Obergruppenführer Oswald Pohl und Gestapo-Chef Heinrich Müller nicht mehr am Leben sind, allein der Welt und dem Gericht Antwort zu geben habe. Ich bin mir bewußt, daß ich die Wahrheit zu sagen habe, um das Gericht und die Welt in die Lage zu versetzen, alle Vorgänge gerecht zu erfassen und zu beurteilen.“
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Die Anklageschrift gegen Kaltenbrunner lautet: „Der Angeklagte Kaltenbrunner war in den Jahren von 1932 bis 1945 Mitglied der NSDAP, General der SS, Mitglied des Reichstages, General der Polizei, Leiter des Reichssicherheitshauptamtes und Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes. Der Angeklagte Kaltenbrunner benutzte die genannten Positionen und seinen persönlichen Einfluß derart, daß er die Festigung der Kontrolle über Österreich nach dessen gewaltsamer Annexion, angeführt in Anklagepunkt eins, förderte, und daß er die in Anklagepunkt drei angeführten Kriegsverbrechen, die in Anklagepunkt vier angeführten Verbrechen gegen Humanität, wie sie im System der Konzentrationslager zum Ausdruck kamen, genehmigte, leitete und an ihnen teilnahm.“
Der Polizeichef verstand wenig von der Polizei
Seine Tätigkeit in Österreich als Polizeichef sei nur repräsentativer Art gewesen, da die tatsächliche polizeiliche Exekutivgewalt durch Berliner Zentralstellen ausgeübt worden sei, sagte Kaltenbrunner.
Im weiteren Verlauf des Verhörs erklärte Kaltenbrunner, daß er im Dezember 1942 von Himmler nach Berchtesgaden bestellt worden sei, um die Leitung des Reichssicherheitshauptamtes zu übernehmen.
Kaltenbrunner will damals Himmler gegenüber seinen Bedenken gegen die Innen- und Außenpolitik sowie gegen gewisse Punkte der Naziideologie und -rechtsprechung geäußert haben.
Er hätte Himmler gebeten, ihn nicht mit polizeilichen Aufgaben zu betrauen, von denen er nur wenig verstünde, sondern ihm vor allem den Ausbau des Nachrichtendienstes zu übertragen, keinesfalls habe er aber mit der Gestapo Zusammenarbeiten wollen, da diese durch die Tätigkeit Himmlers in derartigen politischen Mißkredit gebracht worden sei, daß er nicht seinen Namen und den seiner Familie damit in Zusammenhang habe bringen wollen.
‚Keine Einsicht in die Konzentrationslager‘
Auf eine Frage seines Verteidigers behauptete Kaltenbrunner, vor seiner. Ernennung zum Chef des Sicherheitshauptamtes habe er nur drei Konzentrationslager gekannt. Zu Ende seiner Tätigkeit seien es zwölf gewesen. Es habe insgesamt dreizehn Konzentrationslager gegeben, von denen das dreizehnte ein Lager für SS-Männer gewesen sei.
Dr. Kaufmann legte dem Angeklagten eine Aussage des SS-Unterscharführers Höllriegel vor, der erklärt hatte, er habe Kaltenbrunner beim Besuch im Mauthausener Konzentrationslager mehrere Male gesehen.
Kaltenbrunner erwiderte, daß diese Behauptung, falsch sei. Er habe kein Konzentrationslager gegründet. Jedes Konzentrationslager sei von Himmler durch einen Befehl an Pohl gegründet worden. Das treffe auch für Mauthausen zu.
Kaltenbrunner behauptete weiter, er habe niemals eine Gaskammer gesehen und auch von dem Bestehen einer solchen nichts gewußt.
Erst im November 1943 habe er von dem Bestehen des Konzentrationslagers Auschwitz gehört. Die Bedeutung des Lagers als ausgesprochenes Vernichtungslager sei ihm nicht bekannt gewesen.
Die Morde an den Fallschirmspringern
Bei dieser Methode blieb er auch, als Doktor Kaufmann ihm ein Dokument überreichen ließ, das von der Erschießung 12 bis 15 amerikanischer Fallschirmspringer handelt, die im KZ Mauthausen erschossen wurden.
In dem Dokument, das von dem ehemaligen Adjutanten des Lagerkommandanten von Mauthausen stammt, heißt es unter anderem: „Die Häftlinge trugen eine Uniform, die amerikanischer oder kanadischer Herkunft war. Ungefähr bis zehn Tage nach ihrer Ankunft kam der Exekutionsbefehl in Form eines Funkspruches oder Fernschreibens. Ziereis kam zu mir ins Büro und sagte: ‚Jetzt hat Kaltenbrunner die Exekution genehmigt.‘ Am selben Tage wurden die Leute standrechtlich erschossen.“
Schwere Belastung Kaltenbrunners durch die Zeugenaussagen
In schärfstem Widerspruch zu den Aussagen Kaltenbrunners stehen die von dem amerikanischen Anklagevertreter Oberst John Amen in der Donnerstag-Nachmittagssitzung vorgelegten schriftlichen Aussagen von Dr. Werner Mildner und Dr. Wilhelm Hoettl.
Aus ihnen geht einwandfrei hervor, daß Kaltenbrunner mit dem Chef der Konzentrationslager und Leiter des Wirtschaftsverwaltungs-Hauptamtes der SS, Oswald Pohl, in Verbindung stand, sowie, daß er über die Zustände in den Lagern unterrichtet war und daß der von Himmler ausgegebene Erschießungsbefehl durch die Hände Kaltenbrunners ging.
„Wer hatte denn nun jetzt tatsächlich die Verantwortung für das, was in den KZ vorging?“, fragte Dr. Kaufmann den Angeklagten.
„Alles, was mit dem Häftling geschah, vom Augenblick an, da er die Schwelle des KZ überschritten hatte, bis zu seiner Entlassung, bis zu seinem Tod oder bis zu seiner Befreiung durch die Alliierten, stand unter Kontrolle des Wirtschaftsverwaltungs-Hauptamtes“, erwiderte der Angeklagte.