Wiener Kurier (April 13, 1946)
Ein Österreicher klagt Ernst Kaltenbrunner an!
Nürnberg (Eigenbericht) - Den Höhepunkt der gestrigen Verhandlung gegen die deutschen Kriegsverbrecher bildete das Kreuzverhör, dem der amerikanische Oberst Amen den Angeklagten Kaltenbrunner unterzog, und schließlich die erschütternde Zeugenaussage eines Österreichers, der in Mauthausen fast dahingestorben war.
Als Oberst Amen Kaltenbrunner fragte: „Haben Sie jemals das Konzentrationslager Mauthausen besichtigt?“, erwiderte Kaltenbrunner, wie es alle anderen Angeklagten vorher bereits getan hatten, daß auch er nichts von dem Lager gewußt habe und nur den Steinbruch des Lagers kenne.
Oberst Amen legte daraufhin Kaltenbrunner die schriftliche Aussage des früheren österreichischen Staatsbürgers Karl Karwinsky vor und bat schließlich das Gericht, die furchtbaren Anschuldigungen dieser Zeugenaussage zu entschuldigen, die nicht ausgelassen werden können, da es Pflicht sei, dieses Dokument zu verlesen.
Karwinsky, der Kaltenbrunner schon aus früheren Jahren kannte, berichtete: „Kaltenbrunner habe ich dann im Lager Mauthausen, als ich mit vielen hundert anderen Schwerkranken, zum Teil sterbenden Personen, auf faulem Stroh in einer Baracke lag, wieder gesehen. Die an Hungerödem und schwersten Darmerkrankungen leidenden Häftlinge lagen im strengsten Winter in ungeheizten Baracken. Das durch die Notdurft der Kranken verunreinigte Stroh wurde wochenlang nicht erneuert, so daß sich eine stinkende Jauche ansammelte. Die Zustände waren so, daß jede Nacht zehn bis zwanzig Personen starben. Kaltenbrunner ist mit einem glänzenden Gefolge hoher SS-Funktionäre durch die Baracken gegangen und hat alles gesehen. Wir haben gehofft, daß diese unmenschlichen Zustände sich nunmehr ändern würden, aber sie haben offenbar die Billigung Kaltenbrunners gefunden. Es geschah nichts.“
Kaltenbrunner ging lachend in die Gaskammer
„Stimmt das, Angeklagter?“ fragt Oberst Amen.
Kaltenbrunner: „Das stimmt nicht. Ich werde das alles widerlegen.“
Amen: „Warten Sie einen Augenblick, ich will Ihnen noch mehr vorlegen. Kennen Sie Albert Eifenbacher?“
Kaltenbrunner: „Nein.“
Amen: „Er befand sich von 1938 bis 1945 in Mauthausen.
Eifenbacher sagt aus, daß er Kaltenbrunner drei- oder viermal in Mauthausen gesehen habe und daß Kaltenbrunner jedesmal durch das Krematorium gegangen sei. Stimmt das?“
Kaltenbrunner: „Das ist restlos falsch.“
Amen: „Erinnern Sie sich nicht daran, wie Sie in Mauthausen drei verschiedenen Arten von Hinrichtungen beigewohnt haben? Der Zeuge Johann Kanduth, der ebenfalls im Krematorium Mauthausen arbeitete, hat folgende Aussagen gemacht: ‚Ich habe Kaltenbrunner dreimal während der Kriegsjahre 1942 und 1943 in Mauthausen gesehen. Einmal war er in Begleitung zahlreicher hoher SS-Führer. Er ging lachend in die Gaskammer, und dann wurden die Leute aus den Bunkern zur Hinrichtung gebracht. Drei Arten der Hinrichtung: Hängen, Genickschuß und Vergasung wurden vorgeführt.‘“
Kaltenbrunner: „Ich erkläre feierlich, daß nicht ein Wort davon wahr ist.“
‚Tausend Juden müssen täglich sterben‘
Oberst Amen legte dann die eidesstattliche Erklärung des SS-Standartenführers Kurt Becher vor, in der dieser aussagt, er habe im Oktober 1944 bei Himmler den Befehl erwirkt, daß ab sofort die Vernichtung der Juden zu unterbleiben habe und daß kranken und alten Juden ärztliche Hilfe zuteil werde. Er, Becher, hätte von diesem Befehl Himmlers zwei Kopien an Kaltenbrunner und Pohl weitergegeben. „Meines Erachtens“, führte Becher aus, „tragen nach diesem Zeitpunkt Kaltenbrunner und Pohl die Verantwortung für noch erfolgte Tötungen von jüdischen Häftlingen.“
„Kaltenbrunner“, so sagte Becher abschließend, „hat dann am 27. April 1945 dem SS-Standartenführer Ziereis unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit befohlen, daß in Mauthausen noch mindestens 1000 Menschen täglich sterben müßten.“
Amen: „Stimmt das oder stimmt das nicht, Angeklagter?“
Kaltenbrunner: „Es stimmt zum Teil, zum Teil stimmt es nicht.“
Die ‚Kugelbefehle‘
Amen: „Kannten Sie die Kugelbefehle von Mauthausen?“
Kaltenbrunner: „Ja, die sind mir bekannt.“
Oberst Amen verlas die eidesstattliche Aussage des Zeugen Niedermaier, der in Mauthausen mit dem Ausbau der Zellen beauftragt war und in die Kugelbefehle Einsicht genommen hatte. In der Aussage heißt es, daß von 1300 Zivilarbeitern, Offizieren und Unteroffizieren auf Grund der Kugelbefehle 800 an Hunger und Krankheit gestorben seien.
Als der amerikanische Ankläger ihm hierauf ein von Kaltenbrunner selbstverfaßtes Schreiben an den Bürgermeister von Wien vorlegte, in dem er diesem das Eintreffen von vier Transporten mit je 12.000 Juden aus Budapest mitteilte und besondere Anweisung zu deren Behandlung gab, erklärte Kaltenbrunner: „Dieser Brief ist nicht von mir.“ Kaltenbrunner erklärte, daß wahrscheinlich einer seiner Beamten ein Faksimile seiner Unterschrift für den Brief an den Wiener Oberbürgermeister benützt habe.
Amen: „Sie lügen also in diesem Falle genau so, wie Sie das Gericht heute schon den ganzen Tag anlügen?“
Heydrichs Henkersold: 30.000 Mark monatlich
Im weiteren Verlauf des Kreuzverhörs erklärte Kaltenbrunner auch, er verwahre sich schärfstens dagegen, als Nachfolger Heydrichs angesehen zu werden. „Ich hatte nie die Machtbefugnisse, die er hatte. Dies ergibt sich schon aus der Tatsache, daß ich bis zum letzten Tage des Krieges nur 1820 Mark monatlich erhielt, während Heydrichs Einkommen monatlich 30.000 Mark betrug.“