Wiener Kurier (March 14, 1946)
Göring: Ich war der Gründer der Gestapo
Nürnberg (AND) - Der gestrige Verhandlungstag brachte im Nürnberger Prozeß eine dramatische Wendung. Hermann Göring ergriff als erster Angeklagter persönlich das Wort, um sich zu verteidigen. Seine Verteidigungsrede gipfelte in der Feststellung, daß Hitler im Jahre 1933 in Deutschland die Macht ergriffen habe, um Deutschland „frei zu machen.“
Göring unterließ es nicht, im Zusammenhang mit der Machtergreifung der Nazipartei auf die Wichtigkeit seiner Person hinzuweisen, wobei er verriet, daß mit knapper Mühe, nur wenige Stunden vor der Vereidigung des Kabinett Hitlers ein Putsch der Reichswehr abgewendet werden konnte. Die Nationalsozialisten, erklärte Göring, seien gesetzlich, auf Grund von Wahlen und der damals in Kraft gestandenen deutschen Verfassung an die Macht gekommen.
Die Nazi waren fest entschlossen, an der Macht zu bleiben
Die Erhaltung der Macht, erklärte Göring unumwunden, wäre aber nach Hitlers und seiner eigenen Entscheidung als unbedingte Notwendigkeit betrachtet worden, nicht um der Macht willen, sondern weil man diese benötigte, um Deutschland frei zu machen.
Der Angeklagte erklärte dann dem Gericht, daß „die Nazi Deutschland vor einem politischen Chaos gerettet hätten,“ da sich bei einer einzigen Reichstagswahl 37 Parteien gegenüberstanden. Die Führung der Nazipartei konnte Deutschland unmöglich „dem Spiel des Zufalls der Wahlen und der parlamentarischen Mehrheit überlassen.“ Diejenigen Parteien, die sich nicht selbst auflösen wollten, lösten wir auf. Niemand konnte sich einem Zweifel darüber hingeben, daß wir die Kommunistische Partei erledigen wollten. Denn wir waren überzeugt, daß nach der Machtergreifung durch die Kommunisten wir erledigt worden wären.
Verantwortlich für die Gestapo und die Konzentrationslager
Göring gab zu, daß er nach der Verhaftung von mehreren tausend Kommunisten in Preußen die Gestapo schuf und die ersten Konzentrationslager einrichten ließ, weil er „nicht voraussehen konnte, wie lange sich die Anhaltung dieser Leute als notwendig erweisen würde und bis zu welcher Höhe ihre Zahl ansteigen werde.“
Natürlich wurden ab und zu Unschuldige betroffen, Leute geschlagen und brutal behandelt. Wenn man aber alles betrachtet, das, was vorher und das, was nachher geschah, war diese deutsche Freiheitsrevolution die „unblutigste und disziplinierteste“ in der Geschichte.
Er hätte außerdem sofort die Schließung mehrerer Lager angeordnet, als er Berichte über Mißhandlungen erhielt. So gehörten zwei von den Männern, die solche aufgelassene Lager geführt hatten, „zu den lästigen Figuren, die nach dem Röhm-Putsch beseitigt wurden.“ Er habe angeordnet, daß keinerlei Gewalttätigkeit gegen Insassen der Konzentrationslager angewandt werden dürfte, da „es in meinem Interesse lag, manche von diesen Leuten für mich zu gewinnen und sie umzuerziehen.“ Er erzählte, daß der Kommunistenführer Thälmann in sein Büro kam und dagegen protestierte, daß er während einer Vernehmung geschlagen worden sei. Göring will darauf geantwortet haben: „Mein lieber Thälmann, wenn Sie zur Macht gekommen wären, wäre mein Kopf nicht geschlagen, sondern abgehackt worden.“ Göring sagte, daß Thälmann dies ganz freundlich zugab.
Hitlers Mitarbeiter seit 1922
Über Befragen seines Verteidigers kam Göring auf seine Vergangenheit zu sprechen. Er berichtete, daß ihn das Ende des ersten Weltkrieges als Gegner der Weimarer Republik sah.
Nach mehreren Auslandreisen habe er, nach Deutschland zurückgekehrt, im Jahre 1922 bei einer politischen Versammlung das erstemal Hitler getroffen. „Als Hitler sich scharf gegen den Vertrag von Versailles aussprach und auf die Notwendigkeit hinwies, Deutschland wieder erstarken zu lassen,“ rief Göring aus: „das sprach mich in den Tiefen meiner Seele an, ich trat der Nationalsozialistischen Partei bei und stellte Hitler freiwillig meine Dienste zur Verfügung.“
Göring berichtete, daß ihn Hitler ersucht habe, die Versammlungen der SA zu organisieren. Er trat der SA bei und sah seine Aufgabe darin, diese Organisation zu einem absolut verläßlichen Verband, der alle Befehle Hitlers und seiner Person auszuführen hatte, zu machen.
Über die Zeit um 1931 sagte er: „Der Führer verließ sich auf mich. Ich war seine rechte Hand. Der Führer wußte, daß ich meine ganze Kraft dafür einsetzen werde, um unsere Ideale zu verbreiten. In Deutschland ging alles drunter und drüber. Von Papen bot Hitler die Kanzlerschaft an. Ich sagte von Papen. Hitler könnte alles werden, nur kein Stellvertreter oder zweiter Mann. Welchen Posten er auch erhalten werde, er würde Führer sein.“
‚Auf gesetzlichem Weg zur Macht gelangt‘
Göring berichtete dann über seine Gespräche mit Hitler über die Vorschläge für Änderungen in der Reichsregierung und über Besprechungen zwischen Hitler und Hindenburg über die Kabinettbildung, die „bis zur letzten Minute zusammenzubrechen schienen.“
„Endlich wurde Hitler zum Kanzler ernannt, und die Partei war auf gesetzlichem Wege zur Macht gelangt. Hätte Deutschland ein demokratisches Wahlsystem gehabt, wie England oder die Vereinigten Staaten, dann hätte die Partei Ende 1932 ausnahmslos alle Sitze im Reichstag gehabt, denn die Nationalsozialistische Partei war in allen Ländern die stärkste.“
Göring schloß: „Ich habe alles getan, was in meiner persönlichen Macht stand, um die nationalsozialistische Bewegung stark zu machen und habe unter allen Umständen daran gearbeitet, sie zur Macht zu bringen.“
Nachdem Göring zweieinhalb Stunden lang verhört worden war, wurde die Verhandlung vertagt.
Kesselring: Zur Invasion Englands fehlte die Flotte
Die Einvernahme Kesselrings wurde gestern beendet.
Er gab hierbei zu, daß er ein „Hauptverfechter des Gedankens einer Invasion Englands im Sommer 1940 war und daß Deutschlands Luftflotte, trotz ihres rein defensiven Charakters, zu diesem Schlag bereit war.“
Hier unterbrach der amerikanische Anklagevertreter Jackson die Aussage Kesselrings und stellte folgende Frage: „Sie empfahlen doch Göring, daß die Invasion Englands unmittelbar nach Dünkirchen stattfinden solle?“
„Jawohl,“ antwortete Kesselring, „und ich vertrat diese Ansicht auch noch später. Die Invasion wurde nur deshalb abgeblasen, weil Deutschland nicht über eine genügend starke Flotte verfügte.“
Mit einem gewissen Bedauern setzte der Zeuge dann hinzu, daß „die Katastrophe von Dünkirchen noch viel schlimmer ausgefallen wäre, wenn nicht schlechtes Wetter die deutschen Flugzeuge für zwei Tage zur Untätigkeit verurteilt hätte.“
Plünderung und Geiselmord
Kesselring wurde dann zur Frage des Erwerbes von Heiligenstatuen aus dem Kloster Monte Cassino durch Göring, einvernommen. Er erklärte hiezu, daß er diese durch die Alliierten herausgegebene Meldung erst nach seiner eigenen Gefangennahme gehört habe. Er glaube an ihre Richtigkeit, da sich die Division „Hermann Göring“ in der Nähe des Klosters im Einsatz befand. In diesem Zusammenhang behauptete Kesselring, verschiedentlich die Überführung von Klosterschätzen aus Monte Cassino nach dem Vatikan versucht zu haben.
Der ehemalige Oberbefehlshaber der deutschen Streitkräfte in Italien gab zu, daß sein Befehl vom 19. Juli 1944 zur Ausschaltung der Partisanentätigkeit schließlich die Hinrichtung unschuldiger Geiseln bewirkt habe, darunter das grauenvolle Schicksal von 212 Männern, Frauen und Kindern, die durch seine Truppen in Civitella erschlagen wurden.
„Ist es durch militärische Notwendigkeit begründet, einjährige Kinder und Personen von 84 Jahren zu töten?“ fragte der britische Anklagevertreter Sir Maxwell David Fyfe.
„Nein,“ erwiderte Kesselring.
Der Krieg war 1943 verloren
Auf die Frage, wann nach seiner Ansicht der Krieg für Deutschland verloren war, antwortete Kesselring: „Ich hielt es zu Beginn des Jahres 1943 nicht mehr für möglich, den Krieg siegreich zu beenden. In dieser Überzeugung versuchte ich verschiedentlich mit den Amerikanern Verhandlungen aufzunehmen, um ein Abkommen zu erreichen.“
Der Zeuge fügte dann noch hinzu, daß Hitler, soweit er sich erinnern könne, weder ihn noch einen anderen General in nationalsozialistischem Sinne beeinflußt hätte. Es wäre möglich gewesen, auch unter Hitler seine eigenen Ansichten zu vertreten, falls diese jedoch abgelehnt wurden, war absoluter Gehorsam notwendig.