Wiener Kurier (February 26, 1946)
Zeugenaussage Churchills erscheint unwahrscheinlich
Nürnberg (ACA) - Es ist sehr unwahrscheinlich, daß die Forderung des früheren deutschen Außenministers Joachim von Ribbentrop nach persönlicher Einvernahme Churchills, Daladiers und Bonnets vor dem Nürnberger Gericht bewilligt werden wird. Es ist aber möglich, daß, wie im Falle von Görings Forderung nach Einvernahme von Lord Halifax, der Verteidiger Ribbentrops die Erlaubnis erhalten wird, Churchill schriftlich Fragen vorzulegen. Nach dem Ansuchen Ribbentrops wird sich der Gerichtshof mit den Zeugenanforderungen des früheren Chefs des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht, Keitel, beschäftigen, der die Vorladung von 16 Zeugen und die Einvernahme von acht seiner Mitangeklagten beantragt hat.
Der Prozeß nähert sich der Entscheidung
Wie ein Verteidiger am Samstag bemerkte, nähert sich der Prozeß mit der unmittelbar bevorstehenden „Antwort“ der Nazi auf die alliierten Anklagen rasch seinem entscheidenden Stadium. Heute nachmittag wird die Sowjetanklage, deren Leistung, ihre gewaltige Menge von Anklagematerial in 14 Tagen vorzubringen, allgemein anerkannt ist, mit dem letzten Punkt ihrer Anklage, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, beginnen. Vier Zeugen werden persönlich zur Unterstützung der Anklage erscheinen, deren Einvernahme vielleicht vom menschlichen Standpunkt aus die eindrucksvollste des ganzen Prozesses werden kann, und zwar ein Priester aus Leningrad, ein Bauer aus einer geplünderten Kolchose, ein jüdischer Schriftsteller und ein russischer Kriegsgefangener, der in einem deutschen Gefangenenlager mißhandelt wurde.
Die Verteidigung
Die Sowjetanklage dürfte am Dienstag abschließen. Danach werden nun erneut die Argumente für den verbrecherischen Charakter der Naziorganisationen wiederholt werden und dann kommt die Verteidigung zu Wort. Die Sowjetankläger bestehen nicht mehr auf der Einvernahme des früheren deutschen Generalstabschefs von Halder und General Warlimonts, der Jodl als Chef des Generalstabes vertrat, da beide von der Verteidigung als Entlastungszeugen angeführt sind, aber es ist möglich, daß der Vorsitzende, Lordrichter Lawrence, den Sowjetanklägern vorschlagen wird, sie trotzdem als Zeugen vorzuführen, damit die Verteidigung sie an Hand der von den Sowjets vorgelegten Dokumente ins Kreuzverhör nehmen kann. Man hatte gehofft, daß der Prozeß in acht Wochen zu Ende sein wird, und dabei je zwei Tage pro Angeklagten und eine Woche für die Urteilsverkündigung angenommen. Es ist jedoch schon jetzt klar, daß die Verteidigung für Göring und Ribbentrop und für vielleicht noch drei oder vier andere prominente Nazi eine Woche brauchen wird.
Was die Ladung Churchills anlangt, behauptet Maxwell Fyfe, daß die Unterredung zwischen Ribbentrop und Churchill, auf die Ribbentrop sich bezogen hatte, „einige Jahre vor dem Kriege als eine Unterhaltung zwischen dem deutschen Botschafter und ‚einem Mann stattfand, der zu jener Zeit keine offizielle Stellung innehatte‘.“ Er bestand darauf, daß der Grund für eine Ladung Churchills nicht nur nicht einleuchtend, sondern gar nicht gegeben sei. Darauf entgegnete Horn, daß Churchill nichtsdestoweniger einer der in Deutschland bekanntesten englischen Staatsmänner gewesen sei. Der Gerichtshof maß der Behauptung Horns, die Bemerkung Churchills könne Hitler angeregt haben, Pläne für den Krieg ins Auge zu fassen, solche Bedeutung bei, daß er Horn ersuchte, seine Behauptung schriftlich niederzulegen, bevor man darüber entscheide, ob man Churchill als Zeugen zuziehen solle.
Die Verhandlungen mit Rußland
Der russische Hauptanklagevertreter, Rudenko, wandte sich nachdrücklich gegen den Versuch Ribbentrops, seine Auffassung von den Moskauer Verhandlungen im Jahre 1939, die zu dem russisch-deutschen Vertrag führten, in die Verhandlung einzubeziehen. Als Horn dem Gerichtshof mitteilte, er wünsche General Köstring, den ehemaligen nationalsozialistischen Militärattaché in Moskau, dafür als Zeugen zu führen, daß die deutschen Unterhändler diesen Vertrag in der aufrichtigen Absicht, eine Garantie für den Frieden mit Rußland zu schaffen, abgeschlossen hätten, sprang Rudenko auf und behauptete, daß der Gerichtshof weniger an diesem Pakt als an der Verletzung desselben interessiert sei und daß Köstring mit diesem Rechtsfall nichts zu tun habe.
Der Verteidiger führte als weitere Zeugen Lord Londonderry, Lord Kemsley, Lord Beaverbrook und Lord Vansittart an, deren schriftlicher Befragung bereits durch den Gerichtshof stattgegeben worden war.
Das Memorandum über Polen
Dr. Horn ersuchte um ein Exemplar der Ausgabe des Londoner „Daily Telegraph“ vom 31. August 1939, die, wie er sagte, zurückgezogen worden war, da sie zahlreiche Einzelheiten über das von Ribbentrop dem letzten britischen Botschafter vor dem Kriege in Berlin, Sir Neville Henderson, übermittelte Memorandum enthielt. Wie Horn meinte, würde dieses Exemplar die Behauptung der Anklagevertretung aufhellen, daß Ribbentrops Memorandum, das sieh mit Polen beschäftigt, dem britischen Botschafter so rasch vorgelesen wurde, daß es ihm unmöglich war. die wesentlichen Punkte zu verstehen. Das Exemplar würde erweisen, wie gut er das Memorandum hatte verstehen können.
Sir David Maxwell Fyfe meinte, er höre zum erstenmal von der Zurückziehung einer Ausgabe des „Daily Telegraph.“
Göring hätte veranlaßt, daß der Inhalt des Memorandums inoffiziell hinter Ribbentrops Rücken dem schwedischen Ingenieur Dahlerus übermittelt wurde. Es folge daraus aber nicht, daß Hendersons Auffassung der Unterredung falsch war.
Horn sägte, daß Göring mit Henderson zu einem viel späteren Zeitpunkt in Verbindung gewesen sei und ihm das Memorandum zugänglich gemacht habe.
Maxwell Fyfe erklärt, er werde darüber Erhebungen pflegen.