Wiener Kurier (February 25, 1946)
Churchill und Daladier als Zeugen in Nürnberg?
Nürnberg, 25. Februar (AND) - Joachim von Ribbentrop beantragte am Samstag die Ladung Winston Churchills als Zeugen vor den Internationalen Gerichtshof, um seine Behauptung zu erhärten, daß der ehemalige Ministerpräsident ihm vor dem Kriegsausbruch erklärt habe, daß „England Deutschland vernichten würde, wenn es zu mächtig werde.“
Churchill steht an der Spitze einer Liste von 38 Briten, Franzosen und Deutschen, die Ribbentrop als Zeugen genannt hatte. Unter den Franzosen befinden sich der ehemalige Ministerpräsident Daladier und der ehemalige Außenminister Bonnet.
Der Gerichtshof hielt die Entscheidung über diese Liste zurück und verschob die diesbezüglichen weiteren Verhandlungen auf heute.
Scharfe Debatte um den Versailler Vertrag
Die Verteidigung, die von Hermann Göring eine Unmenge von Schriftstücken erhalten hat, bestritt vorher die grundlegende Anklage der Alliierten, daß Deutschland den Versailler Friedensvertrag gebrochen hätte.
Die Verteidigung verlangte, daß ihr die Möglichkeit gegeben werde, den Nachweis zu führen, daß die deutsche Verletzungen der Vertragsbestimmungen Vergeltungsmaßnahmen für die Vertragsbrüche der alliierten Mächte waren. Die hitzigste Debatte während der ganzen drei Monate der Prozeßverhandlungen entstand, als die Verteidigung aufgefordert wurde, ihr Ansuchen nach den 30 Schriftstücken, angefangen von den Reden Woodrow Wilsons aus dem Jahre 1918 bis zu den Weißbüchern des. Auswärtigen Amtes der Nazi, zu begründen. Der Gerichtshof behielt sich ein Urteil darüber vor.
Ribbentrop behauptete, daß Churchill zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt in den Dreißigerjahren erklärt habe, daß England klag und erfahren genug sei, um andere Mächte auf seine Seite zu bringen, falls Deutschland zu stark werden sollte. Ribbentrops Verteidiger verlangte sieben internierte Zeugen aus dem deutschen Außenamt sowie Ribbentrops Sekretär. Unter den Zeugen des Außenamtes befindet sich Dr. Friedrich Gauß, ein Rechtsberater, der Ribbentrop nach Moskau begleitete, als Deutschland wenige Tage vor Kriegsausbruch den Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion abschloß.
Ribbentrop suchte den Krieg zu verhindern?
Der Gerichtshof stimmte zu, den früheren SS-Generalmajor Schaub, Hitlers persönlichen Adjutanten, vorzuladen, dessen Anschrift der Verteidigung nicht bekannt ist. Er ist vermutlich interniert.
Der Verteidiger Ribbentrops erwähnte eine entscheidende Konferenz zwischen Schaub und Ribbentrop, die nicht nur beweisen soll, daß Ribbentrop sich bemühte, den Ausbruch des Krieges zu verhindern, sondern auch, daß Hitler sogar fürchtete, Ribbentrop könne sich das Leben nehmen, da seine Bemühungen vergeblich waren.
Auf der Zeugenliste befindet sich auch Adolf von Steengracht, der über Meinungsverschiedenheiten zwischen Hitler und Ribbentrop aussagen soll, die im Jahre 1941 soweit gingen, daß Ribbentrop nicht den mindesten Einfluß mehr auf die Außenpolitik und Hitler hatte.
Die deutsche Note an Polen
Ribbentrop behauptete, daß der schwedische Ingenieur Dahlerus bestätigen konnte, daß er am 30. August 1939 die deutsche Note an Polen dem britischen Botschafter auf Befehl Hitlers vorlas, ihm jedoch keine Kopie überließ.
Ribbentrop soll angeboten haben, eine Zusammenkunft zwischen Lord Baldwin und Hitler in England zu veranstalten, doch Baldwin, der zuerst nicht abgeneigt war, lehnte später ab. Die Entscheidungen in der Außenpolitik trat Hitler, und das Auswärtige Amt hatte, insbesondere nach 1941, keinen Einfluß darauf.
Die russische Anklagevertretung wird vermutlich ihr Plädoyer in dieser Woche abschließen. In diesem Falle würden die Plädoyers der Verteidigung am Montag, den 4. März, beginnen.