Österreichische Zeitung (February 13, 1946)
Paulus als Zeuge für Hitlers feigen Überfall
London, 12. Februar - Im Nürnberger Prozeß wurde gestern der ehemalige Generalfeldmarschall Paulus von der russischen Anklagevertretung als Zeuge gestellt, um über den deutschen Angriff gegen die Sowjetunion auszusagen. Er erklärte, daß er im September 1940 den Befehl erhalten habe, an der Ausarbeitung eines Angriffsplanes gegen Rußland mitzuwirken. Niemand im OKW habe einen russischen Angriff erwartet. Hitler wollte Rußland kolonisieren und hatte es hauptsächlich auf das russische Erdöl und andere Rohstoffe abgesehen. Heute nun wurde Paulus von den deutschen Verteidigern ins Kreuzverhör genommen.
Der russische Ankläger Zorya legte Kopien von Verhörsprotokollen mit mehreren Führern der Wehrmacht vor, um zu zeigen, daß die Deutschen schon im Juli 1940 einen Angriff auf die UdSSR planten.
Paulus an die Sowjetregierung
Er verlas einen Brief des Feldmarschalls Paulus an die Sowjetregierung, in welchem er die deutschen Pläne für einen Angriff auf Rußland auseinandersetzt und angibt, daß 130 bis 140 Divisionen dabei verwendet wurden. Es heißt darin, daß die Absicht bestand, sich Moskaus, Leningrads und der Ukraine und später des nördlichen Kaukasus mit seinen Ölfeldern zu bemächtigen. Als Endziel war die Erreichung der ungefähren Linie Astrachan-Archangelsk vorgesehen. Schon dieses Endziel allein kennzeichnet den Plan als reinsten Angriffsplan. Dies geht auch aus der Tatsache hervor, daß in dem Plan keinerlei Vorkehrungen für Defensivmaßnahmen aufscheinen. Als Zorya die Abschrift des von Paulus an die Sowjetregierung gerichteten Schreibens vorlegte; erhob der Verteidiger Keitels Einspruch, und der Lord-Oberrichter Lawrence wies auf die Notwendigkeit hin, wenn möglich, das Original des Briefes vorzulegen oder Paulus einem Kreuzverhör zu unterziehen. Wenige Minuten nach der Mittagspause gab die Anklagevertretung bekannt, daß Paulus am Nachmittag vorgeladen wird.
Im Gerichtssaal herrschte lautlose Stille, als General von Paulus den Raum betrat. Er leistet seinen Eid mit einer tiefen, abgehackten Stimme und schilderte ohne jede Bewegung die Geschichte seines Oberbefehls über die sechste Armee.
Die leitende Angriffsidee
Paulus erklärte, daß die leitende Idee des Angriffes auf Rußland gewesen sei, Leningrad und Moskau so rasch wie möglich zu erreichen und dann von diesen Punkten aus, soweit es die Lage erlaubte, einen Druck auszuüben. Das Ziel war, die russischen Armeen im Westen zu vernichten und zu verhindern, daß sie in das eigentliche Rußland zurückströmten. Die erste Truppenbereitstellung für den Angriff auf Rußland erfolgte im Februar 1941. Wegen Hitlers Entscheidung, Jugoslawien anzugreifen, wurde das Datum für die Aktion „Barbarossa“ verschoben, und der Angriff fand am 22. Juni statt. Paulus beschrieb sodann die Verhandlungen mit Ungarn, die nach Hitlers Entscheidung, Ende März 1941 Jugoslawien anzugreifen und so die deutsche rechte Flanke zu sichern, darin kulminierten, daß er den Befehl erhielt, sich nach Budapest zu begeben, um mit dem ungarischen Generalstab den Aufmarsch der deutschen Truppen zu besprechen. Als alles für die Invasion Sowjetrußlands bereit war, setzte Paulus fort, wurden Täuschungsmanöver von Norwegen an bis zur Küste Frankreichs unternommen, um den Eindruck einer Landung in England im Juni 1941 hervorzurufen, wodurch die Aufmerksamkeit vom Osten abgelenkt werden sollte.
Die Hauptschuldigen am Überfall
Der russische Anklagevertreter Zorya stellte an Paulus die Frage, welcher der Angeklagten als Urheber des Krieges gegen die Sowjetunion tätig war. Paulus erwähnte Keitel, Jodl und Göring, Göring als Chef der Luftwaffe, als Reichsmarschall und als Leiter der Rüstungsindustrie.
Seine Aussage abschließend, sagte Paulus, daß alle Maßnahmen, die vor dem. Angriff auf Rußland unternommen würden, zeigten, daß es sich um einen verbrecherischen Anschlag handelte. Hitler wünschte, die Wolgalinie zu erreichen. Er betonte verschiedentlich die wirtschaftlichen Ziele und sagte bei einer Gelegenheit: „Wenn ich das russische Oel nicht bekomme, muß ich den Krieg verlieren.“
Im Kreuzverhör
Heute stand Feldmarschall Paulus im Kreuzverhör der deutschen Verteidiger.
Dr. Otto Nelte, der Verteidiger des ehemaligen Chefs des deutschen Oberkommandos Wilhelm Keitel, fragte: „Ist es wahr, daß die Strategie in ihren Grundzügen von Hitler ausgearbeitet wurde?“ – Paulus antwortete: „Ja, die Einzelheiten wurden vom Generalstab ausgearbeitet.“ – Nelte: „Aber auch der endgültige Plan des Generalstabes mußte von Hitler bestätigt werden?“ – Paulus: „Ja.“
Dr. Fritz Sauter, der Verteidiger Funks und Schirachs, stellte anschließend Fragen. Als Paulus über sein Telegramm aus Stalingrad befragt wurde, in dem er Hitler seinär Ergebenheit versicherte, erwiderte er, daß er nur versucht habe, Nachricht von der Katastrophe zu geben, die sich dort vollzog. Wörtlich fügte Paulus hinzu: „Heute bedaure ich, dieses Telegramm abgeschickt zu haben.“ Paulus sagte ferner, daß ihm das Verbrecherische des Angriffes gegen Rußland nicht gleich zu Anfang, sondern erst später zum Bewußtsein gekommen sei.
Keitels und Jodls Blutschuld
In einem Kreuzverhör Professor Exners, der Jodl vertrat, erklärte Paulus, daß der deutsche Generalstab über die Stärke der Russen keineswegs im klaren, gewesen sei. Auf die Frage, wieso er sagen könne, daß Keitel und Jodl für das Verbot einer Kapitulation in Stalingrad verantwortlich seien, erwiderte Paulus: „Die Kapitulation war vom Oberkommando der Wehrmacht, dessen Repräsentanten jene Leute sind, verboten worden.“
In seiner nächsten Frage brachte Exner die Vermutung zum Ausdruck, daß Hitler Paulus zum Nachfolger Jodls bestimmt habe, falls dieser in Stalingrad Erfolg hätte. Paulus entgegnete darauf, daß er von einem geplanten Wechsel in der Führerschaft nur in Form von Gerüchten im vorhergehenden Sommer oder Frühherbst gehört habe.
Paulus gab zu, Mitglied des Komitees „Freies Deutschland“ in der UdSSR gewesen zu sein und fügte hinzu: „Es war dies eine Bewegung deutscher Soldaten aller Dienstgrade und Menschen aller Klassen, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, das deutsche Volk noch im letzten Augenblick vor dem Sturz in den Abgrund zu warnen, es zurückzurufen und dazu zu bewegen, dem Hitlerregime, das das deutsche Volk so ins Unglück gestürzt hatte, ein Ende zu bereiten.“
Paulus schlug erregt auf die Zeugenbank, als er die Fragen Dr. Kupuschoks beantwortete. Dieser, der Anwalt des Reichskabinetts, versuchte den Beweis zu erbringen, daß Hitlers Entscheidungen entweder von ihm allein oder von einer ganz kleinen Gruppe seiner intimsten Mitarbeiter ausgearbeitet worden sind.
Es handle sich nicht darum, was das Staatsoberhaupt entschieden habe, erklärte Paulus, die Regierung hätte sich dem Volk gegenüber verantwortlich fühlen und Gegenmaßnahmen zum Wohl des Volkes ergreifen müssen, statt das alles mitzumachen, besonders, wo die ganze Welt wußte, daß eine solche Regierung verbrecherisch sei und auf eine Zerstörung hinarbeite.
Finnischer Generalstab kannte die Angriffsabsicht
Bei der Nachmittagssitzung führte die russische Anklagevertretung einen weiteren deutschen General persönlich als Zeugen vor, und zwar den General der Infanterie Erich Buschenhagen, der in russische Kriegsgefangenschaft geraten war. Buschenhagen sagte über die deutschen Angriffsvorbereitungen gegen Rußland aus. Als Generalstabschef der deutschen Streitkräfte in Norwegen wurde ihm Ende Dezember 1940 mitgeteilt, daß seine Armee in Norwegen an dem Angriff teilnehmen solle. Er hatte zu diesem Zweck einen Nachschubweg durch Nordnorwegen nach Petsamo, der Hauptstadt Lapplands, und anderen finnischen Häfen zu bauen. Er sei auch in Salzburg mit finnischen Offizieren zusammengetroffen, wobei in einer letzten Konferenz die Einzelheiten der deutschfinnischen Zusammenarbeit festgelegt worden seien. Keitel und Jodl seien dabei ebenfalls zugegen gewesen.
Buschenhagen führte in seiner Zeugenaussage weiter aus, daß alle Vereinbarungen zwischen dem deutschen Oberkommando und dem finnischen Generalstab ausschließlich die Teilnahme des finnischen Heeres und die Bewegungen der deutschen Truppen auf finnischem Gebiet betroffen hätten. Alle Andeutungen eines Defensivcharakters der getroffenen Maßnahmen dienten nur der Tarnung. Es könne kein Zweifel bestehen, daß der finnische Generalstab über die Angriffsabsicht, die den deutschen Vorbereitungen zugrunde lag, im klaren war.
Auch Antonescu war bereit
Im Verlauf seiner Anklage legte der russische Anklagevertreter Zorya einen Bericht des rumänischen Diktators Antonescu über seine Besprechungen mit Hitler vor. Darin heißt es: „Da Hitlers Angebot, den Krieg gegen Rußland gemeinsam zu beginnen, meinen eigenen Angriffsabsichten entgegenkam, erklärte ich mich bereit, an dem Angriff teilzunehmen.“
Zorya verlas einen Brief Hitlers an Antonescu vom 27. Juli 1941, worin Hitler diesen zu seinem Erfolg beglückwünscht und die Worte gebraucht: „Die Rückkehr Bessarabiens zu Rumänien wird für Sie und Ihre Armee die beste Belohnung sein.“ Zorya führte aus, Hitler habe sich erbötig gemacht, die Sowjetgebiete zwischen den Flüssen Dnjestr und Dnjepr an Rumänien anzuschließen, aber die Freigebigkeit Hitlers habe mit dem wachsenden Erfolg der Roten Armee abgenommen, und es entstanden zwischen Deutschland und Rumänien Differenzen darüber, wer die größeren finanziellen Lasten für den Feldzug tragen solle. Bei Besprechung der siebenbürgischen Frage sagte Zorya: „Indem die Hitlerverschwörer die siebenbürgische Frage als Köder hinhielten, gingen sie darauf aus, sich die Dienstbarkeit ihrer ungarischen und rumänischen Vasallen zu erhalten.“
Der stellvertretende sowjetrussische Ankläger Oberst Pokrowski erklärte, daß die Deutschen sieben Freundschaftsverträge gebrochen haben. Pokrowski ging vor allem auf den Fall Jugoslawien ein und legte Material über die Besetzung des Landes durch die Nazi, dessen Zerstücklung und die geplante Ausrottung der jugoslawischen Bevölkerung vor. Die Besetzung hatte dem Lande innerhalb von vier Jahren das Leben von 1,650.000 Frauen, Männern und Kindern gekostet.
An Hand der offiziellen Berichte der jugoslawischen Regierung legte der Anklagevertreter dar, wie die Nazi im geheimen die anderthalb Millionen starke deutsche Minorität, die drei Prozent der Gesamtbevölkerung darstellte, organisierten.
Ein vielsagender Brief Kaltenbrunners
Im weiteren Verlauf der Verhandlung legte Zorya einen Brief Kaltenbrunners an Ribbentrop vom 28. Juli 1943 vor, der von der Roten Armee lm Außenministerium aufgefunden wurde. In dem Brief heißt es, „wir haben direkten Kontakt mit Iran aufgenommen und Informationen über die Möglichkeiten einer deutschen Einflußnahme auf den Verlauf der Parlamentswahlen in Iran erhalten. Um entscheidenden Einfluß auf die Wahlen zu gewinnen, müssen die Stämme mobilisiert werden. Für Teheran sind 400.000 und für das übrige Iran mindestens 600.000 Tuman notwendig. Es muß erwähnt werden, daß die nationalsozialistisch orientierten iranischen Kreise eine Intervention Deutschlands erwarten. Ich bitte Sie, mich darüber zu informieren, ob es möglich ist, eine Million Tuman durch das Außenministerium zu erhalten. Dieses Geld kann durch Personen, die wir im Flugzeug nach Iran schicken, abgehen.“
Dieser Brief gibt einen Einblick in die Fragen, die das Außenministerium des Reiches interessierten. Es zeigt dies, wie die Hitleristen durch Verwendung dieser Verbindungen Schwierigkeiten in Iran schufen. Dieses Übereinkommen zwischen Himmler und Ribbentrop über die Organisation eines Spionagedienstes datiert vom 12. Februar 1944 zeigt, daß Himmler von Hitler angewiesen worden war, einen umfassenden deutschen Geheimdienst einzurichten, der in Übereinstimmung mit Ribbentrop arbeitete. Es ist schwer, zu unterscheiden, wo Himmlers Gestapo endet und Ribbentrops Außenministerium beginnt. Unter dem Namen der deutschen diplomatischen Mission wurde in Ländern, die normale diplomatische Beziehungen mit Deutschland aufrechterhielten, ein ausgebreitetes Gestaponetz aufgerichtet.