Die wachen Augen
SS-pk. Langsam neigen sich zwei Hügel zueinander, deren Hänge mit dichten, grünen Getreidefeldern bestanden sind. Das Tal ist von einem schmalen Pappelwäldchen durchzogen, in dessen Schatten ein Bach dem Talausgang klickernd und hell zufließt. Auf dem Hügel nach Norden haben die ersten Linien der SS-Grenadiere sich eingegraben. Ihre Schützenlöcher fügen sich ebenso unmerklich dem Gelände ein wie die des Gegners. Allein das Wrack eines englischen Panzers, das links ab am Rande einer zerschossenen Straße gegen den Horizont steht, bietet ein deutliches Mal, wo der Kampf in den vergangenen Tagen hin und her gewogt ist. Im Schatten des vordersten Höhenzuges ist ein eiliges Kommen und Gehen, denn dort werden Verwundete verladen, Bereitstellungen bezogen, und dorthin auch schafft der Nachschub das zur Front, was in den Kämpfen verbraucht werden wird.
Wenn Kampfpause ist, herrscht im Tal idyllische Ruhe und ein Frieden, den man ungestört glauben könnte, wenn nicht die zerborstenen Stämme am Bach eine allzu deutliche Warnung aussprächen. Die Granattrichter werden von den Getreidefeldern unsichtbar in den Schoss der Erde aufgenommen.
Das Tal und die beiden Hügel liegen ständig unter gezieltem Beschuss, der spüren läßt, daß der Gegner von irgendeinem Punkt aus Einblick in das Gelände hat. Seit 24 Stunden sind unsere Grenadiere dabei, den englischen Artilleriebeobachter ausfindig zu machen. Vergeblich!
Dem alten Rottenführer, der vom Feldzug in Polen bis in die Tiefen der östlichen Steppen alles erlebt hat, was dieser Krieg dem Soldaten an Aufgaben überhaupt stellen konnte, will das nicht in den Kopf. Sein „Eigensinn“ ist in der Kompanie nicht als die störrische Willkür eines Widerspenstigen bekannt, seine Sturheit gilt vielmehr als das Zeichen eines erfahrenen Soldaten, der bisher noch mit jeder auch noch so schwierigen Lage fertig zu werden verstand.
Er nimmt sein Gewehr, macht sich aus dem schmalen Bunker der vordersten Linie davon und springt gebückt längs eines Grabens, der die Höhe des ersten. Hügels erreicht bergan. Die Pausen des Artilleriebeschusses muß er schnell und geistesgegenwärtig nutzen, wenn er nicht in den Feuerschlägen untergehen will. Nun liegt er oben und vor ihm breiten sich die beiden Hänge und das Tal, deren Lieblichkeit für ihn vollkommen versunken ist in jener besonderen Landschaftsbetrachtung des Krieges, in der es nur nach rein militärischen Gesetzen zu sehen gilt. Er späht das Gelände hinauf und hinab, doch kann er nichts entdecken. Er gibt es später selbst zu, daß es nichts Bestimmtes war, was er gesucht hat, sondern daß er sich allein von seinem Instinkt führen ließ, der ihn nun schon durch fünf Kriegsjahre begleitet hat. Er zupft sich einen Getreidehalm ab und nimmt ihn zwischen die Lippen. Er liegt, kaut und schaut.
Der Himmel in der Normandie ist in diesen Tagen wechselnd. Graue Wolken ziehen niedrig und zerfetzt über die Täler und Hügel des Landes. Jetzt braust von Norden her ein Windstoß das Tal hinauf und fährt in die Getreidefelder, daß die Halme wie die Wellen eines Meeres sich senken und wieder steigen. Gelb treten dabei die Granattrichter aus den grünen Wogen hervor, und dort – ein einziger Blick hat genügt – erspäht sein scharfes Auge zwischen dem Grün und Braun einen Fleck grauer Farbe, der nicht in die Landschaft zu gehören scheint. Langsam arbeitet er sich durch das Getreidefeld den Hang hinab. Immer wieder pfeifen, während er sich vorsichtig voranarbeitet, die Granaten des Feindes heran, um mit spitzem und bösem Knall vernichtend zu detonieren. Längst ist ihm wieder der graue Fleck im dichten Grün des Getreides entschwunden, aber er weiß, wo er ihn zu suchen und zu finden hat. Er durchläuft das Wäldchen und überspringt den Bach. Nun geht es wieder hügelan. Und plötzlich zeichnet sich vor ihm im Getreidefeld eine dunkle Stelle ab, die er lange beobachtet. Er hört leise Geräusche, die er nicht zu deuten vermag, deren Natur aber sein empfindliches Ohr als feindlich empfindet. Längst hat er das Gewehr zu sich herangezogen und den Sicherungsflügel herumgelegt.
Wieder nähert sich ein Windstoß dem Getreidefeld. Der Rottenführer geht langsam hoch, und jetzt, wo die große Woge des Sturmes die Halme beugt, erspäht er die Uniform eines Gegners. In der gleichen Sekunde bricht ein Schuss. Wieder hält die Erde den Soldaten in ihrem bergenden Arm, und er wartet, was nun geschieht. Doch das Getreidefeld bleibt still bis auf ein leises Stöhnen, das aus der Richtung des dunklen Fleckes zu ihm dringt. Mit wenigen Sätzen pirscht er sich heran. Der Feind hat seinen artilleristischen Beobachter mit einem kleinen Gerät in der Nacht vorgeschickt. Aus der Verborgenheit des Getreidefeldes hat der Beobachter das Feuer ins Ziel gelenkt. Fast in der gleichen Sekunde trommelt der Gegner ein wahlloses Störungsfeuer über das Tal und die beiden Hügel. Dann erlischt das Feuer, als wäre einer Lunge das Atmen vergangen.
Nach einer Stunde kehrt der Rottenführer aufrecht in seinen Bunker zu den Kameraden zurück.
SS-Kriegsberichter Dr. ROLF BONGS