Völkischer Beobachter (July 12, 1944)
Die militärische Wirkung der ‚V1‘ zugegeben
‚Wirkliches Gegenmittel noch nicht gefunden‘
Von unserem Berichterstatter in der Schweiz
b—r. Bern, 11. Juli –
Nun hat sich im Augenblick die zuständigste militärische Autorität im anglo-amerikanischen Lager zur Frage der deutschen Waffe „V1“ geäußert und das klingt freilich erheblich anders, als die Bagatellisierungsversuche der Minister Morrison und Bracken und selbst als die schon vorsichtigere Rede Churchills im Unterhaus. General Eisenhower, Oberbefehlshaber der Invasionstruppen, hat erklärt, die fliegenden Bomben seien „eine infernale Sache.“
Es sei den Anglo-Amerikanern gelungen, die Wirkung dieser Waffe „in gewissem Grade“ einzuschränken. Damit geht er auch auf die Versuche ein, die neuen Geschosse mit den Mitteln der Luftverteidigung zu bekämpfen, doch seien die Ergebnisse offensichtlich nicht sehr hoch. Er fügte hinzu, daß Wissenschaftler damit beschäftigt seien, Methoden zur Abwehr der neuen deutschen Waffe auszuarbeiten. Er bestätigte also, daß bisher ein wirkliches Gegenmittel nicht gefunden ist.
Die Agentur Reuters fügt diesen Bemerkungen des amerikanischen Generals hinzu: „Man verhehlt sich auf alliierter Seite nicht, daß diese Waffe wirklich gefährlich werden kann. General Eisenhower salbst hat alles Interesse daran, daß Mittel gefunden werden, um zu verhindern, daß sie es noch mehr wird.“ Der zweite Satz gibt zu, daß „V1“ schon eine Gefahr ist, was der erste Satz nur als Möglichkeit wahrhaben will. Daß gerade Eisenhower ein starkes Interesse daran hat, die neue deutsche Waffe zu bekämpfen, beweist ihre große militärische Bedeutung gerade für die Entwicklung der Invasion. Die Erklärung Eisenhowers mag sogar den Sinn haben, den langsamen Fortgang der Operationen in der Normandie vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Damit aber fällt nun alles Gerede über die angebliche militärische Bedeutungslosigkeit der neuen deutschen Waffe endgültig in sich zusammen.
Warnsystem gegen ‚V1‘ geändert
Lissabon, 11. Juli –
Die Bekanntmachung des englischen Innenministers über die Inbetriebnahme der Luftschutzbunker in London steht im Vordergrund der Betrachtungen der englischen Blätter. In die Bunker werden nur diejenigen hineingelassen, die besondere Zulassungsscheine dafür besitzen.
Auf bestimmten Hochhäusern in London werden als Zeichen für „unmittelbare Gefahr“ beim Näherkommen der „V1“-Geschosse fassförmige schwarze Zeichen gehisst, auf allen übrigen Häusern sollen Luftschutzwarte aufgestellt werden, die beim Aufsteigen dieser Signale in ihrem Haus sofort Alarm geben. Es bleiben dann noch Minuten, um den Keller aufzusuchen, ein Zeitraum, der, wie die englische Presse feststellt, natürlich zu kurz bemessen ist, um aus den oberen Stockwerken der Häuser in die Keller zu gelangen.
In einer Leserzuschrift an die Times wurde die Verkürzung der Sirenenwarnung von 60 Sekunden auf die Hälfte gefordert. „Wir alle kennen diesen Laut jetzt gut genug,“ so heißt es in einem Brief. Jetzt aber liegen Klagen vor, daß die Warnung viel zu lange dauert und uns auf die Nerven geht. Außerdem übertönt das Sirenengeheul sehr oft das Geräusch der herannahenden Bombe.
Wucher mit Wohnraum
Die Pläne der Regierung für die Evakuierung der Kinder gehen der Daily Mail nicht weit genug. Das Blatt fordert die Beschaffung von Unterkunftsmöglichkeiten in den auf Grund militärischer Förderungen mit dem Bann belegten Gebieten der englischen Küste. Es gebe zu viele Leute, die „wegen des neuen Blitzes“ für mindestens eine Zeitlang eine „gesündere Umgebung“ aufsuchen wollen. Die sehr dringenden zivilen Notwendigkeiten müßten mit dem militärischen Widerstreben, den Bann in den Küstenstrichen aufzuheben, ausbalanciert werden. Die auf diese Weise mögliche Ausdehnung des Evakuierungsgebietes würde auch der verdammenswerten Praxis der Überpreise für Wohnräume in den bisher genutzten Gebieten entgegenwirken. Es handle sich hier um einen Skandal der Profitgier und es sehe so aus, als ob ein Chaos in der Verwaltung bestehe. Daily Mail fordert stärkste Regierungsmaßnahmen gegen alle Unternehmer, Hotelbesitzer, Pensionsinhaber, Hauseigentümer und Zimmervermieter, die in derartiger Weise der englischen Bevölkerung die „Daumenschrauben ansetzen.“
Trotz der fliegenden Bomben ist die lange Reihe der Gerichtsverhandlungen über Scheidungsklagen nicht abgerissen. Allerdings haben diese Verhandlungen schon seit 14 Tagen in den Unterkunftsräumen in den Kellern der Gerichtsgebäude stattgefunden. Dabei wurden 400 Scheidungsfälle abgeurteilt. Infolge der Enge des Raumes mußten die Parteien sich in einer Schlange auf dem Korridor anstellen, um auf ihre Verhandlung zu warten.
Börsenbetrieb unterbrochen
Die Börse wurde einstweilen unterbrochen und die Geschäfte wurden zum Teil „auf die Straße“ verlegt. Infolgedessen ergebe die tägliche Notierung der Geschäftsabschlüsse kein genaues Bild mehr des tatsächlichen Geschäftsumfanges. Londoner Aktien zeigten eine nachgebende Tendenz.
Die Wirkung des „V1“-Beschusses auf den Londoner Börsenbetrieb wird von der Zeitschrift Financial News geschildert. Die Zahl der abgeschlossenen Geschäfte sei gewaltig zusammengeschrumpft. Vor allem, wenn man bedenke, mit welch einer Hausse die Londoner Börse den Beginn der Invasion begleitete. Das rühre daher, daß die Börse bei Alarm sofort ihre Pforten schließe. Am 17. Juni seien noch 37.614 Geschäfte an der Londoner Börse abgeschlossen worden, am 28. Juni jedoch nur noch 2317. Außerhalb der Börse aber begegne der Handel großen Schwierigkeiten. Auch im Verkehr mit Provinzbörsen und vor allem mit den Maklern der Provinz seien durch die „V1“-Angriffe Störungen entstanden. Man könne jedenfalls nicht mehr davon sprechen, daß die Londoner Börse normal funktioniere. „Damit beeinträchtigen die Deutschen eine der reichsten und einflussreichsten Institutionen der Welt,“ erklärte ein Mitglied des Börsenvorstandes.