Seibert: Das neue Gesicht des Krieges
Von Kriegsberichter Theodor Seibert
pk. Im Westen, 24. Juni –
Auf den zahllosen Straßen und Sträßchen des normannischen Hügellandes, deren Asphaltdecken heute von den breiten Ketten der „Tiger“ zermahlen werden, sind schon vor vier Jahren deutsche Marschkolonnen und Fahrzeuge zur Küste gezogen. Die Hecken und Apfelgärten, die jetzt von den Feuerstößen der MG zerzaust werden, haben schon anno 1940 das Zirpen der Gewehrkugeln französisch-englischer Nachhuten vernommen. Auch die donnernden Breitseiten schwerer Schiffsgeschütze sind für den deutschen Grenadier, der in Sizilien, Salerno oder Nettuno gekämpft hat, nichts absolut Neues. Nichts Neueres zumindest als die unaufhörliche Drohung überstarker feindlicher Bomber- und Jägerverbände zu seinen Häupten.
Man muß ihm nur ins Gesicht sehen, diesem gelassenen, durch alle männlichen Prüfungen des fünfjährigen Krieges gegangenen Krieger von 1944, um zu begreifen, daß für ihn im Grunde wirklich „alles schon dagewesen“ ist, und daß mehr nötig wäre als die militärische Phantasie des Misters Eisenhower, um solche Soldaten ratlos zu machen und gar zu erschüttern.
Gewiss, in den ersten Tagen der Schlacht in der Normandie hat der feldgraue Landser mehr als einmal weidlich geflucht, wenn er den Kopf kaum aus dem Busch am Straßenrand herausstrecken konnte, ohne die Leuchtspurgarben der in allen Höhen kurvenden Feindmaschinen auf seine Kolonne zu ziehen, oder wenn er – das lohnende Ziel vor Augen – auf Sprit und Munition warten mußte, deren Bringer sich auf den gebombten und beschossenen Nachschubstraßen mühsam nach vorne durchkämpften. Doch nicht umsonst ist er ein Meister der Improvisation, ein Genie der Aushilfen und Auswege geworden im Kampf mit der buntscheckigen Schar seiner Feinde, die alle Tugenden und Tücken, alle Laster und Schliche der fünf Kontinente in sich vereinigen.
Der deutsche Landser von 1944 ist in der baumlosen Weite der Oststeppe, in den Bergen und Tälern des Balkans und Skandinaviens, auf den gelben Sandböden Nordafrikas und im Kaktusgewirr der Mittelmeerländer ein Meister der Geländeanpassung geworden, dem die heimelige mitteleuropäische Landschaft der Normandie wesentlich nähersteht und mehr Chancen bietet als seinen landfremden Gegnern aus den USA und Kanada. Nur der Engländer selbst kämpft hier auf vertrautem Boden. Der deutsche Soldat hat auch rasch gelernt, seine Bewegungen der Luftlage anzupassen, er hat seine im Osten erworbenen Tarnungskünste nur wenig vervollkommnen müssen und bald herausgefunden, wie sehr diese Kriegslandschaft ihm hilft, den Masseneinsatz des Feindes zu durchlöchern und der letzten Durchschlagskraft zu berauben.
Sein Kämpfen ist dadurch nicht leichter, aber erfolgreicher geworden. Er hat vermocht, die eigenen Verluste herabzumindern und die des Gegners zu vermehren. Er hat wiederum die Erfahrung gemacht, daß er geschickter, kühner und standfester ist, wenn Mann gegen Mann steht, hat erfahren, daß auch die Eliteverbände, die Roosevelt und Churchill hier gegen ihn ansetzten, trotz glänzender Ausbildung und brutalem Behauptungswillen regelmäßig den Kürzeren ziehen, wo sie ihre Masse an Material nicht voll zur Wirkung zu bringen vermögen. Er wird mit ihnen fertig, so wie er vor vier Jahren als blutjunger Frontneuling im gleichen Nordfrankreich mit den krieg erfahrenen englischen Garderegimentern fertig geworden ist. Und wenn die Generation der Obergefreiten, der „Alten“ von heute, auf die strahlende junge Garde blickt, die in den Panzerdivisionen nach vorne kam, auf ihre ausgezeichneten Waffen und vollen Verbände, wenn er beobachtet, mit welcher rücksichtslosen Einsatzbereitschaft sich die eigenen Fliegerverbände wieder und wieder in den Strudel der feindlichen Übermacht werfen, wo es darauf ankommt, dann verstärkt sich in ihm das persönliche Überlegenheitsgefühl, das die Soldaten der nationalsozialistischen Wehrmacht in diesem ganzen Kriege niemals verlassen und durch alle Engpässe des Kriegsgeschickes durchgesteuert hat.
Nicht nur der Kampf an sich, nicht die Schlacht in der Normandie trägt wesentlich neue Züge – der Krieg als Ganzes hat sein Gesicht verändert. Mit dem 6. Juni 1944 ist nicht nur ein neuer Kriegsschauplatz eröffnet worden, so wie mit den Feldzügen in Norwegen und Frankreich, auf dem Balkan und im Osten neue Kriegsschauplätze eröffnet und neue Teilabschnitte des großen Völkerringens eingeleitet worden sind. Alles, was früher geschah, war – von beiden Seiten her – doch mehr oder minder Vorbereitung, war Durchgangsstadium zum entscheidenden Messen der seelischen und materiellen Kräfte, zur eigentlichen Entscheidungsschlacht.
Beide Seiten haben bisher, unbeschadet des gewaltigen Einsatzes, immer noch mit verhaltenem Arm gekämpft, immer noch Atem gespart für das Kommende. Nur die Sowjetmacht ist gezwungen worden, ganz aus sich herauszugehen, gezwungen durch die deutsche Strategie und den Betrug ihrer Verbündeten. Aber selbst sie hat in den letzten Monaten ihr stures Tempo gebremst, um möglichst stark zu sein für die große Stunde. Anders der plutokratische Westen: Wenn es nach den Wünschen von London und Washington gegangen wäre, hätte diese Stunde nie geschlagen! Wie ein roter Faden zieht sich durch die Geschichte dieses Krieges der Versuch der Seemächte, Englands voran, die große Entscheidung zu umgehen, sie überflüssig zu machen durch Zermürbung der mitteleuropäischen Kraft im Ringen mit gekauften Hilfsvölkern, durch gegenseitige Ausblutung der Mitte und des Ostens, durch Zerschmetterung der deutschen Moral mit Hilfe, des Luftterrors. England und die USA haben nichts unversucht gelassen, um das eigene Blut zu sparen und der Entscheidung auf dem Schlachtfelde auszuweichen.
Es gehört zu den seltsamen Zügen dieses Krieges, daß die beiden geschworenen Feinde auf dem Festlande, die europäische Revolution und die bolschewistische Dauerverschwörung, ein gleich starkes Interesse daran hatten, dieses Ausweichen der Westmächte zu vereiteln und sie aufs Schlachtfeld zu zwingen. Wir, weil wir wissen, daß eine dauernde Bannung der östlichen Gefahr unmöglich ist, solange die verrotteten Demokratien den Aufbau eines neuen gesunden Lebens in Europa und Übersee zu hindern vermögen. Der Sowjetgegner, weil er nicht wünschen kann, einseitig aufs stärkste geschwächt in einen „Frieden“ einzutreten, der nur eine kurze Atempause vor dem unvermeidlichen dritten Weltkrieg wäre – unvermeidlich, weil die Plutokratie als sterbendes Weltsystem keine dauernde Ordnung mehr zu schaffen vermag, was sie schon vor genau 25 Jahren in Versailles bewiesen hat.
Zwei ganze Jahre lang stand das Kriegsgeschehen also unter dem Zeichen der äußerlichen und innerlichen Vorbereitung auf den Kampf im Westen, auf die Invasion. Zwei Jahre lang hat der deutsche Soldat im Osten und im Mittelmeer Schweres erduldet und hingenommen, weil er wusste, daß die letzte Prüfung an anderer Stelle kommen würde. Er hatte auch genügend Erfahrung gesammelt, in Afrika, in Sizilien und in Süditalien, um zu wissen, daß die Belastungsprobe im Westen ungeheuer schwer werden würde, daß die ungestörten Rüstungswerke des amerikanischen Kontinents ihm eine materielle Übermacht entgegenstellen würden, die in den Massenangriffen der Terrorgeschwader auf die deutsche Heimat ihren ersten Ausdruck fand.
Trotzdem hat er die Kunde vom Morgen des 6. Juni mit einem Aufatmen begrüßt, denn sie bewies ihm, daß die zweijährige bittere Rechnung nun doch aufgegangen war, daß nun der Gegner angetreten war, der Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, um sich davor zu drücken. Die Tatsache allein schon, daß er den britischen Kneifer endlich vor der Klinge hat – zum erstenmal richtig vor der Klinge, beflügelt seinen Kampfgeist und befähigt ihn zu außerordentlichen Leistungen. Der Kämpfer der normannischen Schlacht ist entschlossen, diesem Gegner nichts zu schenken und ihn jeden seiner Schritte mit ungeahnten Opfern bezahlen zu lassen. Was das bedeutet, hat der Feind in den ersten beiden Wochen des Westkrieges bereits erlebt. Er vermag jetzt schon nicht mehr seine Enttäuschung darüber zu verhehlen, daß er sich die Invasion wesentlich anders vorgestellt, daß er vor allem nicht mit einem so verbissenen und verlustreichen Erdkampf gerechnet hatte. Für ihn, der bisher fast ausschließlich mit seiner Luft- und Seemacht gekämpft hat, hat der Krieg auch in dieser Hinsicht ein gänzlich neues und höchst unerfreuliches Gesicht gewonnen. Sein ironisches Sicherheitsgefühl, das ihn mit der kaum verhehlten Schadenfreude des unbeteiligten Dritten die heißen Schlachten des Ostens verfolgen ließ, hat dem peinlichen Bewusstsein Platz gemacht, nun selbst in der vordersten Linie zu stehen und den so lange verzögerten Sprung ins eisige Wasser niemals mehr rückgängig machen zu können.
Aber auch für unsere Eltern und Frauen drüben in Deutschland hat der Krieg ein besonderes, neues Gesicht aufgesetzt: Ihre Standhaftigkeit war es nicht zuletzt, die den Feind hier im Westen zum Antreten zwang, und wenn seine Terrorgeschwader auch jetzt noch in Abständen ihre Überfälle wiederholen, so weiß die Heimat, daß diese Überfälle nicht mehr Selbstzweck, nicht mehr auf die Niederbrechung des deutschen Siegwillens gemünzt sind. Sie weiß, daß der Feind damit nur deutsche Abwehrkräfte in der Heimat zu binden versucht, daß mithin ihr tapferes Ausharren unmittelbar dem Kämpfer der Westfront Entlastung bringt. Jedes Feindgeschwader, das heute über deutschen Dörfern und Städten kreuzt, fehlt hier am Himmel der Normandie – hier, wo allein die Luftüberlegenheit dem Feinde den Mut zum Angriff gibt. Jeder Jäger, auf den die Heimat verzichtet, und jedes Flakgeschütz, das sie freigibt, kostet hier in Nordfrankreich ängstlich geschontes britisches Blut und spart junges deutsches Soldatenleben.
Front und Heimat vereint empfinden darüber hinaus mit grimmiger Genugtuung, daß die lange Zeit einseitigen Duldens vorüber ist: dem anglo-amerikanischen Luftverbrecher ist in aller Stille ein tödlicher Rächer entstanden, der nun pausenlos in die Wiege des Krieges, die britische Insel, hineinschlägt. Diese unheimliche Waffe, vor der es weder Schutz noch Ruhe gibt, hat das Gesicht des Krieges nicht nur in technischer Richtung verwandelt. Sie ist das sinnfälligste Symbol dafür, daß es nun aufs Ganze, daß es zum Endkampf geht.