Verworrene Innenpolitik der USA –
Katalog der Präsidentschaftskandidaten
Von unserer Stockholmer Schriftleitung
dr. th. b. Stockholm, 16. Juni –
In wohlbemessenen Dosen hat Roosevelt immer wieder die Meldung verbreiten lassendes scheine noch nicht sicher oder wahrscheinlich, daß er zum viertenmal kandidieren werde. Dabei hat kein ernsthafter Mensch jemals daran gezweifelt, daß er das nicht versuchen würde. Wenn jetzt also der Daily Express aus Washington meldet, in Kreisen, die dem Weißen Haus naheständen, erkläre man, daß sich Roosevelt nun doch endgültig entschlossen habe, zum viertenmal zu kandidieren, so ist das alles andere als eine Sensation. Wer als Vizepräsident kandidieren soll, ist allerdings weniger klar.
Der bisherige Vizepräsident Wallace versucht zur Zeit, Bolschewisten und Tschungking-Chinesen durch zu nichts verpflichtende Reden zu beglücken. Seine Aussichten sind nicht groß. „Big Business“ liegt ihm nicht. Anders ist es mit Wendell Willkie, der als republikanischer Kandidat ausgespielt hat – noch einmal wollen sich die Republikaner durch eine Scheinoffensive wie 1940 nicht aufs Glatteis führen lassen – aber doch in einzelnen Staaten des Mittelwestens über eine ansehnliche Zahl von Anhängern verfügt, die er als Morgengabe in die politische Ehe mit Roosevelt einbringen könnte.
Sollte Wendell Willkie wirklich als Vizepräsident von den Demokraten aufgestellt werden, was durchaus noch nicht sicher ist, so würde sich das innerpolitische Bild noch mehr als bisher verwirren. Zum Schluss dürfte niemand mehr recht wissen, für wen oder für was er wählt, so fließend sind die Grenzen zwischen den Parteien geworden. In Roosevelt und Dewey, dem wahrscheinlichen Kandidaten der Republikaner, stehen sich zwar zwei ausgeprägte Persönlichkeiten gegenüber. Mit einem Gegensatz der Charaktere und Temperamente aber läßt sich ein Wahlkampf allein kaum bestreiten.
Auf welcher Grundlage und mit welchen Parolen der Wahlkampf auch immer ausgefochten werden wird – feststeht, daß er sich auf das Feld der Innenpolitik beschränken muß, es sei denn, es käme während des Wahlkampfes zu einer militärischen Katastrophe für Roosevelt.
Die Demokraten werden auf die „Fortschritte“ hinweisen, die das Land in den letzten elf Jahren gemacht hat. Die Republikaner werden demgegenüber betonen, daß „frisches Blut“ notwendig sei. Die Republikaner werden das Zentralisierungsbestreben der Regierung angreifen. Die Demokraten werden entgegnen, daß ohne eine gewisse Zentralisierung Reformen nicht möglich seien. Die Republikaner werden erklären, daß die Agrarpolitik der Regierung zu einer Warenverknappung geführt hat. Die Demokraten werden von einer Stabilisierung in der Landwirtschaft sprechen. Die Republikaner werden es als verfassungswidrig bezeichnen, daß ein Mann über zwei Perioden hinaus Präsident ist. Die Demokraten werden entgegnen, daß man Roosevelt als Führer im Kriege nicht entbehren könne. Die Republikaner werden behaupten, daß die Kriegsanstrengungen nationale Einigkeit erfordern und daß das amerikanische Volk mehr und mehr republikanisch gesinnt sei. Die Demokraten werden das auf das bestimmteste verneinen.
Solche Kontroversen und noch manche andere müssen also ausreichen, um einen Wahlkampf zu bestreiten, dessen Bedeutung für den weiteren Kriegsverlauf zwar groß, aber noch nicht entscheidend ist. Der Ruck nach der republikanischen Seite hält zwar an, aber es bleibt weiter zweifelhaft, ob die Mehrheit der Bevölkerung der Vereinigten Staaten bereit ist, „in der Furt die Pferde zu wechseln.“ Alles hängt, wie gesagt, von der weiteren militärischen Entwicklung ab.
Neutrale Beobachter in den Vereinigten Staaten sind in ihrer Beurteilung der öffentlichen Meinung nach dem Beginn der Invasion sehr vorsichtig. Sie weisen darauf hin, „daß die meisten Amerikaner eigentlich erst seit der letzten Woche ähnlich wie Willkie entdeckt hätten, daß die Erde rund ist.“ Die Kämpfe in der Normandie stießen nicht nur, weil hunderttausend amerikanische Truppen in sie verwickelt seien und schwere Verluste erlitten, auf tieferes Interesse, als man ursprünglich vermutet habe. Man müsse abwarten, ob diese Reaktion anhalte, vor allem aber abwarten, welche Folgen ein ernsthafter Rückschlag haben werde.