Noch im Abschnitt der Vorbereitungen –
Die deutschen Gegenmaßnahmen laufen
vb. Berlin, 10. Juni –
„…Unsere Sicherungslinien, hinter denen unsere Reserven aufmarschieren…“ Vielleicht ist dieser Ausdruck der aufschlussreichste im deutschen Wehrmachtbericht vom Samstag. Aus ihm läßt sich manches erraten von dem, was in diesen Tagen geschieht, und manches erahnen, was in den nächsten geschehen wird. Aus ihm geht aber noch einmal mit aller Deutlichkeit dies eine hervor: was auch immer seit dem Dienstag geschehen sein mag, wie stark die eingesetzten Kräfte auch sein mögen, wie erbittert auch die Kämpfe seitdem sind – dies alles ist doch immer nur ein Beginn. Es ist eine Art von aneinandergereihten großen Vorpostengefechten für die eigentliche schwere Schlacht. Diese Schlacht aber steht noch vor uns.
Ein Gesamturteil über den Verlauf der Kämpfe in den ersten vier bis fünf Tagen wird zunächst davon auszugehen haben, daß die operative Gesamtkonzeption des Gegners bereits in den ersten Stunden einen scharfen Riss erhalten hat. Er hatte seinen Hauptstoß auf Le Havre angesetzt, dieser ausgezeichnete Hafen sollte ihm das Sprungbrett für weitere Operationen gegen das Festland sein. Im Feuer der deutschen Küstenbatterien und der weiter rückwärts liegenden Maschinengewehrnester brach dieser Versuch blutig zusammen. Dafür war es dem Gegner weiter westlich gelungen, Fuß zu fassen und einen Teil seiner Divisionen an Land zu setzen. Aber sein Plan stimmte nun nicht mehr. Die Voraussetzung war an einer Stelle zerstört. Man darf annehmen, daß wenigstens für die Länge eines Augenblicks dem General Eisenhower die Frage gekommen ist, ob er unter solchen Umständen den Angriff noch weiterführen solle. Aber man kann auch verstehen, daß er diese Frage sofort verneint hat. Zuviel war inzwischen geschehen, zuviel Kräfte waren bereits eingesetzt, zuviel Teilerfolge waren auch errungen, zuviel Prestige war aber auch bereits in das eiserne Spiel geworfen, als daß er jetzt noch zurückgekonnt hätte. Wohl stimmte sein „Fahrplan“ nicht mehr. Aber auch unter den veränderten Umständen konnte er nicht mehr von seiner Absicht zurück. Angriffe von solchem Umfang und solcher Wucht haben ihr eigenes Schwergewicht und ihre eigenen Gesetze. Beim ersten Schritt ist man frei, beim zweiten ist man ein Knecht. Der Generalstab der Westmächte mußte seine Dispositionen umwerfen, er mußte aus der Lage, wie sie sich nicht ganz nach seinem Willen ergeben hatte, versuchen, das Beste zu machen, aber er mußte auch das Unternehmen, so wie es einmal angefangen war, zu Ende zu führen versuchen.
So erklärt es sich, daß die Angriffsrichtung im Gegensatz zu dem ersten Tag jetzt vornehmlich nach Westen ging, in den Fuß der Halbinsel Cotentin hinein, auf der Cherbourg liegt. Man weiß, daß es dem Gegner in den letzten Tagen gelungen ist, die einzelnen Brückenköpfe nach den Seiten hin anschwellen zu lassen, sie zum Teil zu vereinigen und sich so breitere zusammenhängende Küstenstreifen zu sichern. Aber noch hat er heute, am fünften Angriffstag, keinen größeren Hafen in seinem Besitz, noch muß er seine Ausladungen unter den vielfachen Erschwerungen des Lufttransports oder bei bewegter See am Strande, ungeschützt gegen das Meer, unternehmen. Und noch ist es ihm nicht gelungen, tiefer ins Land hineinzustoßen.
Wohl haben seine gerade im Anfang naturgemäß überlegenen Kräfte im Raum von Caen und Bayeux die deutschen Sicherungslinien zurückdrücken können, aber sie halten. Gerade hier, nicht mehr unmittelbar an der Küste, bewährt sich die Anlage des Atlantikwalls. Man weiß, daß die deutsche Bauleitung bewußt von dem System der Maginot-Linie abgegangen ist und hier ein vielfach ineinander verschlungenes und nach der Tiefe hin gegliedertes System von Stützpunkten geschaffen hat. Dieses System hat der Gegner noch nicht überwinden können. Auch seine vordersten Truppen liegen noch immer in den Maschen dieses Systems, der Gegner hat manchen Stützpunkt zerschlagen können, aber er sieht sich noch immer unter dem Feuer, das von vorne, das flankierend, ja das von rückwärts in seine Reihen schlägt. So wird der Gegner immer wieder am ungehinderten Aufmarsch gehindert, mit der Unterstützung der Festungswerke können die deutschen Sicherungsstreitkräfte – die durch erste Eingreifkräfte verstärkt sind – den Gegner so lange aufhalten, bis größere Verbände heran sind.
Wir wissen seit Tagen, daß diese Kräfte auf dem Marsch sind. Ein Teil von ihnen ist auch bereits zur Unterstützung der örtlichen Verbände in die Frontlinien eingeschoben. Aber dahinter erst vollzieht sich der eigentliche Aufmarsch des Hauptteils der deutschen Eingreifdivisionen. Es entspräche der Ungeduld der Truppe, wenn sie sofort zur Unterstützung der schwer ringenden Kameraden in den Kampf gehen könnten. Aber gerade hier handelt es sich um jene entscheidungsschweren Augenblicke, in denen die Führung die äußerste Schnelligkeit des Handelns mit der äußersten Kaltblütigkeit und Geduld vereinen muß, Tropfenweiser Einsatz würde die Truppe vorzeitig verbrauchen und die Wirkung würde dem gesteckten Ziel nicht entsprechen. Es ist deutlich, daß es sich bei den zur Gegenoffensive bestimmten Verbänden um an Zahl nicht allzu geringe Truppen handelt. Diese Verbände müssen erst aufmarschieren. Der Aufmarsch aber kostet Zeit. Erst wenn er fertig ist, kann der Vorstoß mit voller Wucht geführt werden.
Man weiß, daß auch beim Gegner bisher erst Teile der zur Invasion bestimmten Kräfte den Kampf führen. Sie werden in der nächsten Zeit wohl weiter verstärkt werden. Auch beim Gegner handelt es sich also um eine Art von Vervollständigung seines Aufmarsches auf dieser Seite des Kanals. Dies alles aber schließt in sich, daß wir erst beim Beginn der Entscheidungsschlacht stehen. Erst wenn die Hauptmacht der Grenadierregimenter und der Panzerdivisionen auf die des Feindes stößt, erst dann wird ein Höhepunkt der großen Invasionsschlacht erreicht sein.
Schon heute ist zu spüren, daß der Gegner diese Schlacht anders führen muß, als er es am Montagabend noch gehofft hatte. Der Zusammenbruch seines Angriffs auf Le Havre hat ihm Teile seines Angriffsplanes zerschlagen. Der erbitterte deutsche Widerstand des Atlantikwalls und der deutschen beweglichen Streitkräfte hat ihm Verluste zugefügt, mit deren Höhe auch Pessimisten bei ihm kaum gerechnet haben. Um dies beurteilen zu können, sind wir nicht allein auf die Berichte der deutschen Front angewiesen. Da liegt zum Beispiel die Meldung von der Freitagnacht aus dem Hauptquartier des Generals Eisenhower vor:
Der Atlantikwall ist kein Mythos. Er ist ein furchtbarer, glänzend entworfener Wall von Beton und Feuerkraft. Es gibt keinen einzigen Punkt auf der Karte der Invasions-Landeköpfe, der nicht durch das Kreuzfeuer von Maschinengewehren, leichter Artillerie oder Mörsern bedeckt wurde. Es gibt eine furchtbare Zone von Stützpunkten, die aus Beton und Stahl so stark gebaut sind, daß sie ein langes Luftbombardement überlebten…
Und ein Berichterstatter, der bei den amerikanischen Landetruppen war, gibt folgende Schilderung:
Die amerikanischen Gräber und das Blut auf diesem zerwühlten Strand und den Felsen bekunden, daß der Angriff durchaus nicht leicht war. Die Amerikaner, die diese Küste stürmten, sagten aus, daß sie durch eine wahrhafte Hölle mußten. Das wird durch diese Haufen von Leichen, diese Masse von Trümmern bestätigt. Die ersten vierundzwanzig Stunden an diesem Strand waren ein lebendiger Alpdruck von zerrissenen Körpern, explodierenden und sinkenden Landebooten und krepierenden Granaten des wilden deutschen Artilleriefeuers. Viele Männer, die durch das tödliche deutsche Artilleriefeuer von ihren Sturmbooten geschleudert wurden, kamen im Wasser ums Leben. Einige erreichten den Strand und kletterten einige Meter über die Felsen, bevor sie getroffen wurden. Die anderen Streitkräfte kämpften einen der blutigsten Landungskämpfe des Krieges gegen die bestverteidigste Küste der Welt.
Dieser Haufen von Leichen, diese Masse von Trümmern… Wenn kommende amerikanische Geschlechter diesen Bericht lesen, werden sie die Frage wiederholen, die heute so manchen amerikanischen Soldaten bewegt: „Wozu?“ Und in ihren Augen werden dann Berichte dieser Art zu einer furchtbaren Anklage gegen die Männer werden, die heute die Invasionsstreitkräfte in das Feuer der deutschen Batterien jagen.