Wiener Kurier (September 16, 1946)
Nürnberg enthüllte der Welt die Verworfenheit der Naziideologie
Kein Angeklagter bekannte sich zu seinen Taten
New York, im September (ONA.) - Nach mehr als neun Monaten, in denen 216 Sitzungen abgehalten wurden, hat der Internationale Gerichtshof in Nürnberg seine Arbeit beendet. Die 21 Angeklagten erwarten nunmehr das Urteil des Gerichtshofes, das am 23. September gefällt werden wird. Es wird allgemein erwartet, daß keiner der Angeklagten freigesprochen wird und die meisten, wenn nicht alle, zum Tode durch den Strang verurteilt werden.
Der hinter uns liegende Prozeß war kein gewöhnliches Verfahren. Sein wahres Ziel war die praktische Anwendung des Kellog-Briand-Paktes, der den Angriffskrieg für ungesetzlich erklärt. Weiter sollte noch ein Präzedenzfall für die Bestrafung von Männern geschaffen werden, die sich des Krieges zur Erreichung politischer Ziele bedienen.
Die 21 Angeklagten versuchten verzweifelt, sich ihrer persönlichen Schuld zu entledigen, indem sie leugneten, selbst Morde begangen oder gegen den Frieden konspiriert zu haben. Sie alle verfehlten ihre Absicht, die Welt kümmerte sich nicht mehr um diese einstigen Machthaber oder den Grad von Schuld, der ihnen zur Last gelegt wird.
Diese 21 Männer sind die überlebenden Wahrzeichen des Nazistaates, der Nazipartei, der Wehrmacht und des Nazipropagandasystems. Nun müssen sie die Verantwortung tragen für die wahnsinnige Schöpfung des Führerstaates, den sie ins Leben riefen.
25 Millionen Menschen bezahlten die Naziverbrechen mit dem Leben
Wenn man bedenkt, daß etwa 25 Millionen Menschen, Männer, Frauen und Kinder, die Verbrechen des Nazistaates mit ihrem Leben bezahlen mußten, ist es schwer zu begreifen, wie irgend einer dieser 21 Baumeister des Bösen der Todesstrafe entgehen könnte. Internationale Gerichtsbarkeit gegen die Friedensstörer wird in Zukunft nicht leichtfertig herausgefordert werden, ein internationales Gesetz gegen die Friedensbrecher wird in kommenden Tagen nicht einfach anzuwenden sein, wenn es von Anfang an Hintertüren für führende Männer enthält, deren persönliche Verbrechen, verglichen mit denen ihrer Mitschuldigen, weniger verabscheuungswürdig erscheinen.
Ein zweites Motiv lag dem Nürnberger Prozeß zugrunde. Man beabsichtigte, diesen langen hingezogenen Prozeß zur großartigsten Demonstration einer Umerziehung des deutschen Volkes nach seinem militärischen Zusammenbruch zu gestalten.
Zahlreiche Berichte aus Deutschland enthüllen klar, daß es immer noch weite Kreise im Reich gibt, die unter Nazieinfluß stehen. Der Faschismus ist nicht tot, er ist nur geschlagen worden und von der Oberfläche verschwunden, aber er ist immer noch da als eine Macht, mit der man rechnen muß. Dennoch war der Prozeß ein wertvoller Beitrag zur Umerziehung Deutschlands.
Als dem deutschen Volke die unzähligen Grausamkeiten, die auf Befehl seiner Führer verübt worden waren, enthüllt wurden, weigerten sich die meisten Deutschen, dies zu glauben. Heute hat sich diese Lage geändert. Man nimmt nun auch langsam in Deutschland zur Kenntnis, daß unglaubliche, erschütternde Grausamkeiten begangen wurden, besteht aber darauf, daß nur eine Handvoll Menschen dafür verantwortlich zu machen sind, Heinrich Himmler, Reinhard Heydrich oder, etwas zögernd, vielleicht Hitler selbst. Nur wenige begreifen die Tatsache ganz, daß diese Grausamkeiten die natürliche Ausgeburt des faschistischen Staatssystems und der Naziideologie waren.
Die 21 Angeklagten in Nürnberg nahmen denselben Standpunkt ein wie diese Mehrheit. Sie begriffen nicht, daß das System selbst angeklagt war. Zwei von ihnen waren reuige Sünder; Dr. Robert Ley, der ehemalige Leiter der Arbeitsfront, beging Selbstmord und hinterließ ein Testament, in dem er seinem Naziglaubensbekenntnis absagt, und Hans Frank, der ehemalige Generalgouverneur von Polen, der öffentlich seine Verantwortlichkeit für die in Polen begangenen Grausamkeiten zugab.
Feiges Abschieben der Verantwortung
Die anderen, wie Göring, Schacht und Ribbentrop, trachteten ihre Schuld zu vermindern, indem sie jedes Wissen um die Ereignisse in den Konzentrationslagern leugneten und die Schuld auf die scharfe Disziplin des Führerstaates schoben, in dem selbst die höchsten Funktionäre nichts waren als „gehorsame Diener“. Einige von ihnen, wie Seyß-Inquart, der österreichische Quisling, gaben selbst in ihrer letzten Verteidigung ihre fortdauernde Treue zu Hitler zu. Keiner von ihnen aber verteidigte seine Handlungen oder die Prinzipien des Führerstandes. Der Nürnberger Prozeß zeigte nicht nur der Welt die Schuld der 21 Angeklagten - er brachte die vollkommene Verworfenheit der Naziideologie ans Licht.
Man muß sich nur vorstellen, daß Hitler den Krieg gewonnen hätte und Roosevelt, Churchill, Stalin und Molotow gefangen und auf die Anklagebank gebracht worden wären. Bestimmt hätten sie ihre Prinzipien und Handlungen verteidigt, selbst angesichts des Todes und in den Händen des Nazihenkers. Roosevelt wäre darauf bestanden, daß Gedanken- und Redefreiheit jedes Opfer wert sei, Churchill hätte den Bestand des britischen Empire verteidigt; Stalin und Molotow hätten kaum versucht, ihre Handlungen durch die Behauptung zu beschönigen, nichts von Lenins Absicht, die Bourgeoisie oder die Kulaken zu liquidieren, gewußt zu haben.
Aber weder Göring noch Alfred Rosenberg, der sogenannte Philosoph der Nazibewegung, wagten, dem Gerichtshof in Nürnberg zu sagen, daß sie der Vernichtung der Juden beistimmten. Der berüchtigte Julius Streicher bestand dem Gerichtshof gegenüber sogar darauf, „Zionist“ zu sein. Keiner von den einundzwanzig sagte, daß das, was Hitler und Himmler getan hatten, recht sei und daß jeder Nazi stolz sei, die Verantwortung für die Handlungen der Führer auf sich zu nehmen.
Die 21 Angeklagten sind gebrochene Menschen, die sowohl die moralische wie auch die physische Niederlage versinnbildlichen. Diese Haltung der leitenden Nazi ist das beste Zeichen für die vollständige Auflösung der Naziideologie.
Sie alle wollten mit ihrer Verteidigung nur einen letzten Rest persönlichen Rufes und eigener Ehre retten. So zerstörten sie die Grundlage einer Wiedergeburt der Nazibewegung. Sollten alle Angeklagten gehenkt werden, werden die Deutschen die grundlegende Erkenntnis erhalten, daß es für den einzelnen kein Entkommen gibt, wenn der Staat fürchterliche Verbrechen begeht.