Wiener Kurier (June 3, 1946)
Österreichs Totengräber müssen in Nürnberg ihre Schandtaten bekennen
Seyss-Inquart und von Papen vor der Vernehmung
Von William Stricker, Chef des Nürnberger DANA-Büros
Nürnberg - Jetzt, da beim Nürnberger Internationalen Militärtribunal die Verhandlung der Fälle Franz von Papen und Artur Seyß-Inquart bevorsteht – Papen wird in etwa einer Woche in eigener Sache als Zeuge aussagen und Seyß-Inquart wenige Tage später – wird auf einer Wiener Kleinkunstbühne ein „blackout“ aufgeführt, das sich mit der Länge des Nürnberger Prozesses befaßt.
Die Szene stellt den typischen weißbehelmten amerikanischen Militärpolizisten dar, der vor der Anklagebank steht. Neben ihm sitzen Göring und Heß. Eine Stimme ruft: „Was wäre wenn… der Nürnberger Prozeß im gleichen Tempo wie bisher weitergeführt wird…?“ Die Bühne wird auf einen Augenblick verdunkelt. Wenn die Lichter wieder angehen, sieht man denselben Militärpolizisten und neben ihm Göring und Heß mit langen, wallenden weißen Bärten. Blackout…
Der Nürnberger Prozeß, dessen Tatbestand die Verbrechen von dreizehn Jahren sind, wurde vor wenigen Tagen ein halbes Jahr alt und wird vorsichtigen Schlitzungen nach noch weitere drei Monate dauern. Ist dies zu lange?
Die Verbrechen des Nationalsozialismus vor der Geschichte festlegen
Worauf es in Nürnberg ankommt, ist je nicht nur die Verurteilung der einundzwanzig das nationalsozialistische Regime an Verbrechen Angeklagten, sondern vielmehr die Tatsache, daß für die Geschichte eindeutig festgelegt wird, was das nationalsozialistische Regime an Verbrechen verursachte, wie der Krieg vorbereitet und herbeigeführt wurde und welche Verantwortung das deutsche Volk für die Ereignisse der letzten dreizehn Jahre trägt Mit der Vorlage von etwa 2500 Dokumenten durch die Anklagebehörde, zumeist erbeutete deutsche Befehle und Archive sowie weiterer tausend Dokumente durch die Verteidigung, durch die Einvernahme von fast hundert Zeugen, meist hohe Würdenträger des „Dritten Reiches“ aber auch von Entronnenen der Vernichtungslager Auschwitz und Dachau und durch die Einvernahme der Angeklagten selbst, soll es unmöglich gemacht werden, wieder eine „Dolchstoßlegende“ zu erfinden und das deutsche Volk noch einmal durch Lügenpropaganda über die Vergangenheit und die „Ungerechtigkeiten“ des Versailler Vertrages in den Netzen einer Mordbewegung zu fangen.
Nürnberg kein ‚Volksgerichtshof‘
Die Anschuldigungen gegen das deutsche Volk, das ja in freier demokratischer Wahl die Hitlerscharen zur Herrschaft brachte, sind viel zu schwerwiegend, die Anklagen gegen die 21 Angeklagten und die zehn Millionen Mitglieder der sieben angeklagten Organisationen sind viel zu bedeutend, der Wert der Tatsachen für die Geschichte, die im Verlaufe der Verhandlungen, enthüllt werden, viel zu groß, um in aller Eile ein kurzes Verfahren abzuhalten. Das Nürnberger Internationale Militärtribunal ist kein „Volksgerichtshof“ eines Blutrichters Lux. Das Gericht ist, und das wird selbst von den Verteidigern der Angeklagten; von denen eine Reihe (17 von 48) Pg’s waren, einstimmig anerkannt, ein faires Gericht, das die Wahrheit ermitteln will, und dafür ist keine Zeit zu lang.
Kümmerliche Nazibonzen in schlechtsitzendem Zivil
Die Frage, die man von Außenstehenden meistens hört, ist: „Wie schauen die Angeklagten aus? Was machen die Angeklagten?“ Die Antwort ist: Auf der Anklagebank sitzen diese ehemaligen Bonzen in ihren schlechtsitzenden Zivilanzügen (nur Göring trägt seine ehemalige Luftwaffenuniform ohne Rangabzeichen und die Generale Keitel und Jodl tragen grüne Uniformröcke, ebenfalls ohne Goldknöpfe und Schulter stücke) seit nunmehr über sechs Monaten täglich sechs Stunden ruhig. und scheinbar gefaßt und folgen aufmerksam den Vorgängen im Gerichtssaal.
Fünfzehn der Angeklagten betraten bisher den Zeugenstand. Alle haben bisher eine Linie der „Verteidigung“ verfolgt: Die Toten – Hitler, Himmler und Bormann – die nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können, waren schuld; die Angeklagten waren nur „Befehlsempfänger“ oder „sie können sich nicht mehr erinnern.“
Dies ging zum Beispiel im Falle Kaltenbrunner so weit, daß er seine eigene Unterschrift abzuleugnen versuchte, worauf ihm der Ankläger eine Reihe von Unterschriften vorlegte, die Kaltenbrunner identifizieren mußte.
Den jämmerlichsten Eindruck auf der Zeugenbank machte der Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes „Der Stürmer“ Julius Streicher, der dem Gericht glauben machen wollte, er habe von der Ermordung, von fünf Millionen Juden erst aus dem Schweizer „Israelitischen Wochenblatt“ erfahren. Die früheren Nazihelden machen heute in der ehemaligen „Stadt der Reichsparteitage“ einen kläglichen, manchmal sogar peinlichen Eindruck.
Sie sind alle feige
Wenn Göring und Kaltenbrunner behaupten, nie etwas von Auschwitz gehört zu haben, Ribbentrop Göring beschuldigt, seine „Friedenspolitik“ vereitelt zu haben, Schacht, Keitel, Dönitz und Raeder erklären, von einer Rüstung zum Krieg nichts gewußt zu haben, Frank behauptet, ein Freund der Polen gewesen zu sein, der ihren Lebensstandard erhöhen wollte; und wenn man der Welt weismachen will, daß Sauckels Bemühungen nur darauf hinzielten, den Fremdarbeitern. das Leben zu verschönern (Schirach beschrieb, wie sich die Fremdarbeiter in Wien im Wurstelprater amüsierten) – wenn man diese Aussagen aus dem Munde dieser Leute hört, dann kann man wenig Achtung für die feige Haltung dieser Männer haben.
Von Papen und Seyß-Inquart werden vieles über die Vorgeschichte des Anschlusses, über die Untergrabung der Freiheit Osterreichs zu erzählen haben. Man kann aber kaum erwarten, daß sie irgendwie die Verantwortung für ihre Taten übernehmen werden.
Zehntausende Holländer wurden auf Seyß-Inquarts Befehl gemordet
Seyß-Inquart mag zu beweisen versuchen, daß durch den Anschluß ein alter Wunsch der österreichischen Arbeiterschaft erfüllt wurde und wird vielleicht durch seinen Anwalt Dr. Gustav Steinbauer Reden und Schriften österreichischer sozialistischer Staatsmänner zitieren lassen, die im Jahre 1918 und 1919 für den Anschluß an das damals demokratische Deutschland eintraten, Er mag sogar wie bisher alle vor ihm – zu beweisen versuchen, daß er immer ein Judenfreund war. Freilich werden ihm Vergehen zur Last gelegt, denen Zehntausende, Holländer während seiner Amtszeit als Reichskommissar für die besetzten Niederlande zum Opfer fielen, die durch nichts entkräftet werden können.