Wiener Kurier (May 11, 1946)
Dönitz erklärt in Nürnberg: Mordbefehle Hitlers mußten geheimgehalten werden
Nürnberg (AND) - Im Laufe der gestrigen Nachmittagssitzung wurde Dönitz auch über die Mordbefehle gegen neutrale und Handelsschiffsbesatzungen vernommen. Dönitz mußte zugeben, daß die deutsche U-Boot-Waffe sich das Recht angemaßt hatte, alle in dem 750.000 Quadratmeter großen Sperrgebiet um England kreuzenden Schiffe anzugreifen. Diese Anweisungen seien im August 1940 ergangen. Schiffe ohne Warnung zu versenken, sei keine Frage des Rechts, sondern eine Frage der Zweckmäßigkeit gewesen. Hitler habe den Vorschlag gemacht, die Genfer Konvention zu kündigen, um das überlaufen deutscher Soldaten zu verhindern. Er, Dönitz, habe vorgeschlagen, alle erforderlichen Maßnahmen geheim zu treffen, um nach außen hin das Gesicht zu wahren.
Weshalb der Mordbefehl vom 18. Oktober 1942, der die Erschießung von Angehörigen feindlicher Kommandos anordnete, so geheimgehalten wurde, wisse er nicht.
Der Mord an 35.000 Seeleuten der britischen Handelsmarine war ‚eine Kriegsnotwendigkeit‘
Auf eine Frage des britischen Hauptanklägers sagte Dönitz, er glaube nicht, daß er Hitler im Mai 1943 vorgeschlagen habe, Spanien und Gibraltar zu besetzen, um in der Bucht von Biskaya angreifen zu können, da das bei der damaligen Lage eine reine Utopie gewesen wäre.
Dönitz erklärte im weiteren Verlauf des Verhörs, er habe es für legal gehalten, gegen bewaffnete Handelsschiffe ohne Warnung vorzugehen. Es sei eben Krieg gewesen. Auch den Tod von 35.000 Seeleuten der britischen Handelsflotte bezeichnete Dönitz als eine Notwendigkeit des Krieges. Die warnungslose Versenkung abgeblendeter Fahrzeuge habe nur für Gewässer gegolten, in denen man ausschließlich englische Schiffe vermutete.
Maxwell Fyfe machte den Angeklagten darauf aufmerksam, daß nach internationalen Abmachungen die Bewaffnung von Handelsschiffen nicht verboten gewesen sei.
Schiffbrüchige durften nicht gerettet werden
Der britische Hauptankläger fragte Dönitz über die im Londoner Abkommen enthaltenen Pflichten zur Rettung Schiffbrüchiger und verlas eine Eintragung aus einem deutschen U-Boot-Logbuch vom 27. Mai 1940, in der es heißt: „Englische Mannschaften trieben auf Schiffssplittern und gekenterten Booten umher. Ein junger Mann ruft: ‚Help.‘ Die anderen sind gefaßt. Haß steht auf ihren Gesichtern. Dann gehen wir zurück auf unseren alten Kurs.“
Er habe den U-Boot-Kommandanten den Entschluß, ob sie retten sollten oder nicht, abnehmen wollen, führte Dönitz aus. Nur deshalb habe er die Rettung von Schiffbrüchigen untersagt. Aus einem Bericht über eine Zusammenkunft zwischen Hitler und dem ehemaligen japanischen Botschafter in Berlin, General Oshima, geht hervor, daß Hitler wünschte, möglichst viele Besatzungsmitglieder der feindlichen Handelsflotte zu vernichten.
Der Nazigeist im Offizierskorps
Dönitz gab zu, die Marine im Nazigeist beeinflußt und im Februar 1944 erklärt zu haben, der Rückhalt der Truppe sei die nationalsozialistische Weltanschauung, und der Gedanke eines unpolitischen Offizierskorps sei „wahrer Unsinn.“ Obwohl Dönitz zugab, daß er am Heldengedenktag 1943 von dem „auflösenden Gift des Judentums“ gesprochen habe, erklärte er, daß er niemals etwas von der Judenvernichtung erfahren habe.
Der britische Ankläger verlas darauf einen von Dönitz ausgegebenen Befehl, aus dem hervorgeht, daß Soldaten und Unteroffiziere, die ihre „Führernaturen“ bewiesen hatten, bevorzugt zu befördern seien. Weiter ist in dem Befehl von einem deutschen Unteroffizier die Rede, der in einem Lager australischer Gefangener alle Kommunisten unter den Gefangenen aus der Welt geschafft habe und auf den eine Beförderung warte, wenn er zurückkomme.
In dem Kreuzverhör durch den sowjetischen Ankläger Oberst Prokowski erklärte Dönitz, er nehme an, daß Hitler ihn zu seinem Nachfolger bestimmt habe, weil er, nachdem Göring ausgeschieden war, der Rangälteste in einem der Armeeteile gewesen sei. Er gab zu, daß der Befehl vom 30. April 1945, den Krieg in Deutschland fortzusetzen, von ihm stamme.
Über die KZ-Lager machte sich Dönitz ‚keine Gedanken‘
Nur von zwei KZ-Lagern, Oranienburg und Dachau, habe er gewußt, sagte Dönitz aus. Er habe sich keine Gedanken gemacht, wo die 12.000 KZ-Häftlinge, die auf den Werften arbeiten sollten, herkamen. In dem Protokoll einer Lagebesprechung vom 1. Juli 1944, das von Dönitz unterschrieben ist, heißt es, Hitler habe im Hinblick auf den Werftarbeiterstreik in Kopenhagen erklärt, man solle die Aburteilung der Saboteure nicht durch Kriegsgerichte vornehmen, sondern sie ohne Gerichtsverfahren beseitigen.