Rosenberg: Friedrich Nietzsche (10-17-44)

Völkischer Beobachter (October 17, 1944)

Rosenberg: Friedrich Nietzsche

Von Alfred Rosenberg

In einer Gedenkstunde anlässlich des 100. Geburtstages Friedrich Nietzsches sprach am Sonntag Reichsleiter Alfred Rosenberg. In seiner von tiefem Verständnis für das Werk des großen Philosophen getragenen Rede führte Reichsleiter Rosenberg folgendes aus:

Es kann sich heute nicht darum handeln, die Entwicklung aller Gedanken Friedrich Nietzsches eingehend aufzuzeigen, auch nicht das zu prüfen, was aus der mannigfaltigen, reichen Wirksamkeit gleichsam als System seines Denkens sich herausgebildet hat, sondern des Menschen selbst zu gedenken. Dies dürfen wir auch bei einem Gesamtüberblick über sein Werk heute mit umso mehr Verständnis tun, als es sich bei dem Werk Nietzsches nicht so sehr um den Auf- und Ausbau eines philosophischen Gebäudes, sondern im Wesentlichen immer wieder um das Problem der Schicksalhaltung handelt.

Die wesentliche Frage seines Lebens, die er einmal aussprach: „Ist heute Größe möglich!“ bestimmte sein ganzes Denken und Handeln. Nietzsche war der Prometheus seinerzeit, dessen Fackel auch die dunkelsten Winkel gehütetster und doch so oft vermotteter Traditionen durchleuchtete – allerdings auch eine gefährliche Fackel, die darüber hinaus auch manches noch mit Recht behütete, als Brücke von Vergangenheit zur Zukunft dienende in Brand zu stecken drohte. Nietzsche wurde hineingeboren in eine Zeit einer ungeheuren Bereicherung der Kenntnisse aus den Geschichtsepochen aller Völker. Das 19. Jahrhundert war nicht nur ein Jahrhundert der Technik, sondern auch ein Jahrhundert der Sammlung historischer Kenntnisse ältester Nationen und Kulturen, ein Jahrhundert, da alle Formen und Stile der Kunst wissenschaftlich geordnet vor dem betrachtenden Auge lagen, ein Zeitalter, das er selbst als eine Epoche der „Stilmaskeraden“ bezeichnete. Neueste Industriebauwerke verbanden sich mit dem historischen und kunstgeschichtlichen Wissen zu einer verwirrenden geistigen Kostümierung. Der „europäische Mischmasch“ aber brauchte ein solches Kostüm, denn je ärmer er innerlich wurde umso mehr glaubte er es nötig zu haben, sich mit den erborgten und erlernten Schätzen der Vergangenheit zu behängen, um diese seine immer größer werdende Leerheit zu verdecken oder zu verheimlichen.

Die europäischen Nationen bildeten sich im 19. Jahrhundert inmitten dieser Umwelt machtmäßig neu. Dieser nationalpolitische Aufschwung verband sich aber mit Problemen eines neuen Industriezeitalters, denen die liberale Weltanschauung nicht gewachsen war. Sie lehrte Freiheit der Wirtschaft, Freiheit des Handels, sie lebte in einem geistig beschränkten Optimismus dahin, als ob die Verkehrserleichterungen, der Austausch der Lebensgüter mit anderen Kontinenten die Steigerung der technischen Bequemlichkeiten usw. einen ewig dauernden, wenn auch durch manchen militärisch-politischen Konflikt gestörten, so doch im Grunde nicht aufzuhaltenden Fortschritt von Kultur und Zivilisation bedeuteten. Die auftretenden sozialen Spannungen sah man zwar auch als störende Erscheinungen des „wirtschaftlichen Fortschritts“ an, verschloss sich aber die Augen vor der Tatsache, daß die Industrie Millionen und immer wieder neue Millionen hinabdrückte in eine Schicht, die sich selbst Proletariat nennen ließ. Man übersah, daß eine solche unterdrückte, immer wachsende Schicht das Opfer von Lehren werden konnte, die sie gegen alles das emporhetzte, Was einmal wirklich Völker, Staaten und Kulturen gegründet hatte, am Horizont zeigten sich seherischen Blicken Auflösung, Zusammensturz, Kriege und Revolutionen. Warnungen und eine helfende neue Formendarstellung wurden nicht oder kaum gehört, jedenfalls aber nicht verstanden und blieben schließlich gänzlich ohne Echo.

Die Geschichte dieser Entwicklung darstellen, heißt Nietzsches Leben von innen her erzählen und sowohl sein Verhältnis zu Deutschland, zur Geschichte, zu Europa, zur Religion und zur sozialen Frage seiner Zeit verständlich machen. Er wusste sehr wohl, daß er nicht voll gehört werden konnte, er wusste auch, daß er nicht mehr dem 19. Jahrhundert angehörte, und er nannte sich und die wenigen, auf die er hoffte, die „Europäer von übermorgen,“ die „Erstlinge des zwanzigsten Jahrhunderts.“

So wie er hatten manche empfunden, die auf das heroische Deutschland von 1871 hofften und im Schatten dieses erkämpften Reiches die Bleichröders, dann die Ballins und Genossen groß werden sahen. Es hatten sich manche zu Wort gemeldet, die wir heute ebenfalls als die Propheten unserer Zeit einreihen, einige waren Nietzsche nahegetreten, die anderen hatten, ungekannt von ihm, gewirkt: eine gemeinsam sich zusammenfügende geistige und politische Macht sind sie nicht geworden. Es war etwas, was in diesem Zeitalter der geschäftigen Handelspolitik fehlte, um große Völker zum Bewusstsein ihrer selbst zu führen, nämlich das allgemeine Leid. Auch darum wusste Nietzsche sehr genau, als er schrieb: „Die Zucht des Leidens, des großen Leidens – wisst ihr nicht, daß nur diese Zucht alle Erhöhungen des Menschen bisher geschaffen hat?“ Und diese Voraussetzung für die Umsetzung seiner Prophetie in ein sich besinnendes Volk mußte Friedrich Nietzsche versagt bleiben.

Der Kreis Nietzsches verringerte sich immer mehr, und nur wenige sind es schließlich gewesen, die seine Einsamkeit, wenn auch nicht teilen, so doch wenigstens verstehen konnten. Und diese letzte Einsamkeit war schließlich mitentscheidend, um manches an der Form der Angriffe Nietzsches gegen seine Zeit, auch die Überspitzung dieser Form, zu verstehen. Diese Einsamkeit und Seherkraft zugleich ist es aber, die, über alles zeit- und traditionsbedingte hinweg, Nietzsche heute mitten hinein in das große Geschehen dieses von ihm vorhergesagten 20. Jahrhunderts stellt, mitten in die riesige Auseinandersetzung, die das deutsche Volk heute durchzukämpfen hat, mitten hinein aber auch in jenen Prozess, in dem alles das, was Nietzsche als unvornehm und niederträchtig bekämpfte, sich gegen Deutschland zusammengeschlossen hat.

Er spricht es mehr als einmal aus, daß, wo in Europa das Herdentier allein zu Ehren komme und Ehren verteile, ein gänzlich anderer Menschentyp zur Herrschaft gelangen müsse, um dieses Schicksal zu wenden. Er setzt somit eine tiefgehende Kritik des ganzen sozialen Gefüges ein, eine Kritik der marxistischen, damals schon fälschlich sozialistisch genannten Bewegung, wie sie folgerichtiger und vernichtender auch heute nicht denkbar ist. Für ihn ist der Marxismus die zu Ende gedachte Tyrannei der geringsten und dümmsten, der oberflächlichen, neidischen und Dreiviertelschauspieler, er sei in der Tat die Schlussfolgerung der „modernen Ideen" und ihres latenten Anarchismus.

Von dem nationalen Bürgertum hält Nietzsche schon damals nichts und nennt die beiden gegnerischen Parteien – die sozialistische und die nationale – oder wie immer ihre Namen in den verschiedenen Ländern Europas lauten mögen: „Einander würdig, das heißt beide unwürdig.“

Nietzsche weiß aber, daß wahrscheinlich trotz aller Erkenntnis die nun einmal eingeschlagene Entwicklung nicht in kurzer Zeit rückgängig gemacht werden kann, und deshalb sagt er voraus, daß aus diesem Gemisch von Liberalismus, Plutokratie und Anarchie die große Krise Deutschlandsunddesganzen europäischen Kontinents hervorgehen müsse.

Diese klare Erkenntnis der extremsten Entwicklungsmöglichkeiten scheidet Nietzsche als Denker und aktiven soldatisch ausgerichteten Philosophen immer deutlicher von allen Bewegungen seiner Zeit. Die Feststellung der künstlerischen Verwirrung der Stile und diese klare Erkenntnis der haltungslosen, allen möglichen sich widersprechenden Traditionen unkritisch zugewandten Gegenwart vereinigen sich dann in ihm zu einer Kritik seines ganzen Zeitalters, wie sie schärfer und ätzender nicht denkbar ist. Man darf, wie bei jeder großen Erscheinung, seitens ihrer Jüngerschaft nicht vor die Alternative gestellt werden: Alles oder nichts anerkennen zu müssen. Vielmehr wird auch Nietzsche, der nach jahrzehntelangem Missverstehen und Missverkennen heute in die Epoche seiner allgemein nationalen Anerkennung tritt, das gleiche Schicksal wie alle anderen Großen zu tragen haben: Was zeitbedingt ist, was nur aus seinem persönlichen Schicksal gedeutet werden kann, aber gerade dadurch nicht als unbedingt zu werten ist, wird vergessen werden können. Umso deutlicher aber wird der eigentliche Kern und die unerbittlich richtige Stoßrichtung seines Denkens inmitten einer oberflächlichen Welt ihre tiefe Anerkennung und Ehrfurcht finden. Und damit ist auch das Wesen der ganzen menschlichen Tragödie Friedrich Nietzsche verständlich geworden.

Viele der Besten haben unter der Gründerzeit und der vermaterialisierten Epoche gelitten. Aber mag auch auf manchen Gebieten der eine oder andere jener Propheten unserer Zeit uns besonders nahestehen, als Gesamtpersönlichkeit und als unbeirrbarer Erkenner einer ganzen Epoche, die sich anschickte unterzugehen, ist Friedrich Nietzsche wohl die größte Erscheinung der deutschen und europäischen Geisteswelt seiner Tage gewesen!

Wenn man in letzter Zeit besonders seinen „Willen zur Macht“ betont, so ist mit vollem Recht auch dieser Kern herausgeschält worden als jenes charakterliche Widerstandszentrum, aus dem sich sowohl die begründeten Abhandlungen wie die ekstatischen Proklamationen des „Zarathustra“ und die harten Angriffe seiner letzten Schriften erklären lassen. Wir müssen aber an dieser Stelle Protest einlegen gegen jene Versuche auch unserer heutigen Feinde, diese Anschauung vom Dasein gleichsam als ein Bekenntnis zu dauernden militärischen Überfällen etwa auf die so gesittete demokratische Gesellschaft des Westens, gleichsam als eine Inkarnation des ewig friedenstörenden „preußischen Militarismus“ deuten zu wollen. Was sich vielmehr hier ausspricht, ist ein Gesetz des Lebens, jede große Leistung in der Welt will zur Bedeutung kommen, jeder große Staatsgedanke will sich durchsetzen, jede wissenschaftliche Entdeckung strebt nach allgemeiner Anerkennung, jede große künstlerische Tat sucht ihr Publikum, und jeder Denker erwartet ein geistiges Echo und erhofft sich eine Gefolgschaft.

Zum Erstaunen aller erwachte jener deutsche Geist, von dem Nietzsche zu Beginn seines Wirkens ahnungsvoll und voll tiefer Hoffnung gesprochen hatte: aus dem Dunkel des Verrats von 1918 trat kämpferisch eine neue vornehme Idee vom Leben und eine die Gesetze dieses Lebens ehrfürchtig anerkennende Weltanschauung an das Tageslicht der Zeit. Dieser Lebenswille begnügte sich nicht mit anschauen und erkennen, sondern war verbunden mit einem instinktgebundenen Willen aus den Wurzeln des deutschen Wesens heraus und bildete sich gegen alle Gewalten zu einer politischen Macht.

In einem wahrhaft geschichtlichen Sinne steht die nationalsozialistische Bewegung als Ganzes heute vor der übrigen Welt, wie Nietzsche als einzelner einst vor den Gewalten seiner Zeit. An einem ungeheuren Experiment der Natur und des Lebens wiederholt sich der Kampf zweier Prinzipien.

Aber wenn damals, vor vielen, vielen Jahrzehnten, wenige Einsame die kommende Anarchie und ihre Kriege nur prophetisch erschauen konnten und schließlich an der Unmöglichkeit, gehört zu werden, zerbrachen, so steht heute das nationalsozialistische Großdeutsche Reich als ein Willensblock von 90 Millionen inmitten dieses ungeheuren Ringens, auch im vollen Bewusstsein, hier der Notwendigkeit eines großen Lebens, der Notwendigkeit eines europäischen Schicksals zu dienen.

So sehen wir Nationalsozialisten heute das Wirken jener Mächte, die, aus der Vergangenheit herüberkommend, im 19. Jahrhundert eine gefährliche Kraft der Zersetzung zu werden begannen und heute in einem großen, eitrig aufbrechenden Prozess zur fürchterlichsten Erkrankung des europäischen Wesens führen, und wir sehen zugleich inmitten dieses unheilvollen Stroms einige Propheten fordernd ihre Stimme erheben, diese schöpfungsfeindlichen Werte zu zerbrechen, um eine neue Rangordnung des Lebens verwirklichen zu helfen. Unter ihnen ehren wir heute den einsamen Friedrich Nietzsche. Nach Absteifung alles Zeitbedingten und auch allzu Menschlichen steht diese Gestalt heute geistig neben uns, und wir grüßen ihn über die Zeiten hinweg als einen nahen Verwandten, als einen geistigen Bruder im Kampf um die Wiedergeburt einer großen deutschen Geistigkeit, um die Gestaltung eines großzügigen und großräumigen Denkens und als Verkünder einer europäischen Einheit, als Notwendigkeit für das schöpferische Leben unseres alten, sich heute in einer großen Revolution verjüngenden Kontinents.