Westeisenbahner
Von Erich Glodschey
Über einem Bahnhof der Normandie liegt nächtliches Dunkel. Das Auge erkennt unter dem bedeckten Himmel nur ungewisse Umrisse, aber das Ohr nimmt die Zeichen einer angespannten Tätigkeit auf den Gleisen und Rampen wahr. Metallisches Klirren der Laufketten schwerer Panzer und das tiefe Gebrumm ihrer anspringenden Motoren schallt herüber. Wir sind an einer Betriebsspitze der Eisenbahn. Zug um Zug der Panzer trifft ein, wird einladen und rollt frontwärts zum Kampf gegen die Invasoren. Erst kurz zuvor war die Eisenbahnstrecke, die in der Nähe Bombentreffer aufwies, geflickt und der halbzerstörte Bahnhof zur Entladung behelfsmäßig hergerichtet worden. Eine kleine Schar deutscher Eisenbahner hatte hier die Voraussetzungen geschaffen, um die Transportzüge um eine erhebliche Anzahl von Kilometern näher an den Kampfraum heranzuführen.
Was die blauen Eisenbahner im Westen zu leisten haben, ist schon seit Monaten eine Aufgabe geworden, die nicht weniger Einsatzbereitschaft und Entschlossenheit erfordert als die Taten der Eisenbahner im Ostfeldzug, deren Bedeutung für die Kriegführung nicht mehr hervorgehoben zu werden braucht. Bereits seit dem Frühjahr haben die Engländer und Nordamerikaner als Vorbereitungsfeuer der Invasion ihre schweren Luftangriffe ganz besonders gegen Verkehrsziele in den besetzten Westgebieten gerichtet. Sie haben viele französische Städte und Dörfer in rücksichtslosem Terror gegen ihre ursprünglichen Verbündeten mit Bomben niedergewalzt, und haben als Ziel angegeben, eine „Verkehrsblockade“ zu erreichen. Der Feind setzte in der Luft alles daran, um den Bau der Befestigungen des Atlantikwalls sowie der Anlagen für neue deutsche Waffen, und um schließlich im Augenblick der Landung auf französischem Boden den Nachschub des deutschen Heeres zu unterbinden. Die deutschen Eisenbahner im Westraum wussten aus diesen Vorgängen, welche ernsten Probleme von ihnen zu lösen waren.
Seit dem Waffenstillstand mit Frankreich bestand der Dienst der deutschen Eisenbahner im Westen darin, den Verkehr der französischen Eisenbahner zu überwachen, der Waffenstillstandsvertrag verpflichtete die französischen Staatseisenbahnen zu einer Durchführung des Bahnverkehrs entsprechend ihrer im Frieden bewiesenen Leistungsfähigkeit mit eigenem Personal und Material. Die deutschen Beamten der Hauptverkehrsdirektionen sorgten dafür, daß sich der Betrieb und Verkehr der französischen Eisenbahnen den vordringlichen Bedürfnissen der Besatzungsmacht planmäßig anpassten, nachdem die Schäden aus dem Westfeldzug beseitigt waren. Der gute Zustand des französischen Bahnnetzes und rollenden Materials sowie die anerkennenswerte Berufstreue der französischen Eisenbahner ermöglichten einen glatten Ablauf des Verkehrs sowohl für die Bedürfnisse der deutschen Kriegführung wie auch für die innerfranzösischen Wirtschaftsbelange. Als sich nach der englisch-amerikanischen Landung in Französisch-Nordafrika die militärische Notwendigkeit einer Sicherung auch des nichtbesetzten französischen Gebiets durch deutsche Truppen ergab, wurde dort durch deutsche Bahndienststellen an den wichtigsten Punkten die Zusammenarbeit im Verkehrswesen für den Schutz des südfranzösischen Küstenraumes verbürgt. Dies alles wurde durch eine verhältnismäßig nur kleine Schar von Beamten der Deutschen Reichsbahn ausgeführt.
Im Jahre 1944 veränderte sich die Lage durch die offenkundigen Vorbereitungen der Briten und Nordamerikaner für die Invasion in Frankreich. Diese Vorbereitungen waren von einer zunehmenden Lufttätigkeit begleitet, die sich im besonderen Maße gegen französische Bahnanlagen, wie beispielsweise Verschiebebahnhöfe, Lokomotivbahnhöfe, Brücken usw., richtete. Die Bekämpfung der Luftkriegsschäden erforderte größere Kräfte als bisher. Die Deutsche Reichsbahn konnte angesichts der Verkürzung der von ihr betriebenen Streckenlänge im Ostraum mehr Personal für den Westen freimachen. Diese deutschen Eisenbahner wurden eingesetzt, um im Zusammenwirken mit der französischen Bahnverwaltung den feindlichen Plan einer Verkehrsblockade Frankreichs zu überwinden. Die blauen Uniformen deutscher Eisenbahner in Frankreich wurden zahlreicher. Darunter befanden sich viele Männer, die aus dem Ostfeldzug gewohnt waren, kriegsmäßig zu fahren und auch größte Schwierigkeiten zu meistern. Was unter den Einwirkungen des feindlichen Luftkrieges zu vollbringen war, kam dabei nicht allein der deutschen Kriegführung zugute, sondern auch der französischen Wirtschaft und Ernährung, über deren Bedürfnisse sich die sogenannten „Befreier“ aus England und USA ohne jedes Bedenken hinwegsetzten.
Die Instandsetzung beschädigter Bahnanlagen wurde mit allen Mitteln betrieben, um die feindlichen Absichten, die auf eine Lahmlegung der deutschen Eingreifdivisionen im Falle der Invasion abzielten, auf jeden Fall zum Scheitern zu bringen. Die Erfahrungen deutscher Eisenbahner aus dem Osten kamen ihnen im Westen sehr zugute. Hunderte von englischen und nordamerikanischen Großbombern schütteten über kleinen Bahnknotenpunkten in Frankreich riesige Bombenlasten aus, die gereicht hätten, um ganze Großstädte in Schutt und Asche zu legen. In den Wochen vor der Invasion jubelte die Londoner und Neuyorker Presse über diese Zerstörungen und vertrat die Ansicht, mit solchen Flächenbombardierungen könnten die deutschen Eisenbahner niemals fertig werden. Zu den Bombenangriffen kam der Bordwaffenbeschoss unzähliger Züge, der wiederum vornehmlich seine Opfer unter französischen Eisenbahnern und Zivilisten fand. Trotzdem wurde die Versorgung der deutschen Armeen im Westen ebenso sichergestellt wie die Transporte zu den Befestigungen der Küste.
Was dies bedeutet, haben wir auf manchem Trichterfeld erkannt, das mit seinen tiefeingewühlten Bombenkratern mehr einer Mondlandschaft glich als einer Bahnanlage. Doch quer über Trichter und durch Trümmer spannte sich wieder das stählerne Band der Schienen und der Verkehr rollte, zwar kriegsmäßig vereinfacht, aber dennoch in der gewünschten Wirksamkeit. Immer wieder und wieder hat der Feind an solchen Punkten angegriffen, mit schweren und mittleren Bombern, mit Jagdbombern, mit Tiefangriffen der Jäger. Oft sind neugebaute Strecken wieder zerbombt worden. Aber bald darauf waren durch die Wiederherstellungsarbeiten deutscher und französischer Eisenbahner und anderer Kräfte doch wieder fahrbare Schienenwege geschaffen. Es galt, den Wettlauf zwischen Zerstörung und Instandsetzung zu gewinnen, um für den Zeitpunkt der feindlichen Aggression in Westeuropa bereit zu sein. Während die feindliche Presse viel über diese Fragen zu erzählen wusste, schwieg man auf deutscher Seite, um desto energischer zu handeln. Die Eisenbahner der deutschen Überwachung der französischen Bahnen mußten sich selbst an Zähigkeit und Wendigkeit übertreffen, wenn der gewaltige feindliche Materialeinsatz ständig neue Probleme zu schaffen versuchte. Die Hauptsache war und blieb, die Bereitschaft für den Invasionsbeginn auf ein möglichst hohes Maß zu bringen, und dies ist durchgeführt worden. Wenn die feindliche Landung in der Normandie auf weit größere Hemmnisse ihrer Entwicklung gestoßen ist, als in London und Washington erwartet wurde, dann haben an dieser Kampfleistung der Soldaten auch die deutschen Eisenbahner als ihre Kameraden einen hohen Anteil, weil sie im Vorbereitungsfeuer der Invasion dafür gesorgt haben, daß Truppen und Material in die befohlenen Räume befördert werden konnten.
Mit dem Beginn der ersten feindlichen Landung auf französischem Boden ist die Verantwortung, die auf den deutschen Eisenbahnern im Westen lastet, noch größer geworden. Selbstverständlich setzt der Feind nun erst recht alles daran, um das französische Verkehrsnetz in Unordnung zu bringen. Mit den Bomben und Bordwaffen seiner Flieger und durch den Einsatz seiner Sabotagetrupps geht der Feind gegen die Bahnanlagen und gegen den gesamten Schienenverkehr vor. Der Feind bekämpft die Instandsetzungsarbeiten, er bekämpft den rollenden Nachschub. Vor unseren Eisenbahnern steht die Notwendigkeit, die entscheidenden Bahnverbindungen im Betrieb zu halten und die Betriebsspitzen möglichst weit frontwärts vorzuschieben. Was die blauen Eisenbahner zu tun haben, hängt eng zusammen mit den Aufgaben, die in unmittelbarer Frontnähe von den feldgrauen Eisenbahnerformationen zu lösen Sind.
Wie an der Front ein erbittertes Ringen der Waffen im Gange ist, so wird hinter der Front ein harter Kampf um den Verkehr geführt, über Einzelheiten kann man jetzt nicht sprechen, doch weiß der deutsche Soldat aus allen bisherigen Feldzügen, daß er mit der höchsten Einsatzbereitschaft seiner Kameraden im blauen Rock des Eisenbahners rechnen kann. Mögen sich auch mitunter Hindernisse auftürmen, die in einem „normalen“ Eisenbahnverkehr kaum überwindbarerscheinen, so wird trotz allem gefahren! Das haben wir auf langen Fahrten in Frankreich, an Betriebsspitzen und auf zerbombten Bahnanlagen, unter dem Dröhnen schwerer Bomber und dem bösartigen Surren der Tiefflieger erlebt wie zuvor im Ostraum und in den Luftterrorgebieten der Heimat.