Völkischer Beobachter (June 26, 1944)
Französische Passion 1944
Von Kriegsberichter Fritz Zierke
pk. In Caen, 25. Juni –
Nun sind die Gewitter des Krieges, die seit Wochen ihre Vorboten über den Himmel Frankreichs geschickt hatten, mit wilder Wut losgebrochen, und sie rasen grausamer, als es die finstersten Seher vorausschauend verkündet hatten. Denn es gibt Grenzen der menschlichen Vorstellung, über die nicht einmal die Fieberträume der Furcht hinausdringen, es gibt Wirklichkeiten, die erst dann ihre ganze Abgründigkeit offenbaren, wenn sie den Menschen in ihren Strudel reißen. In einen solchen Abgrund blickt heute Frankreich – und ein Zittern geht durch seinen gepeinigten Leib.
Bis an die Schwelle des vergangenen Frühjahres war Frankreich von den schlimmsten Schrecken des Krieges verschont geblieben – mehr als jedes andere der großen europäischen Länder. Als wir in sechs Wochen von der Maginotlinie zum Atlantik flogen, zeigte der Krieg noch ein menschlicheres Antlitz. Nirgends, es sei denn in Serbien und Griechenland, hinterließ er weniger tiefe Spuren. Nur dort, wo wir die ersten Breschen in das feindliche Land schlugen und wo der Gegner, bereits schwankend, sich noch einmal zu aussichtslosem Widerstand stellte, an der Maas und an der Somme, an der Seine und der Aisne, sanken Dörfer in Schutt, fiel auch in einige Städte die Brandfackel der Schlachten, aber das alles wirkte doch wie ein Spuk, der ebenso rasch verflog, wie er kam. Und so blickten wir damals halb fragend auf die Karawanen der Flüchtlinge, die sich über alle Straßen des Landes wälzten.
Wovor flohen sie? Nicht eigentlich vor der Wirklichkeit des Krieges, die weit weniger grausam war als ihr Wahn, sondern vor Gespenstern, die eine aberwitzige Schreckpropaganda ihrer Regierung entfesselt hatte. Und schon auf dem Wege, als der Krieg, schneller als ihre den Schritt beflügelnde Angst, sie überholte, wurden sie ihrer Täuschung inne. Sie kehrten, erleichtert, ernüchtert, zum Teil beschämt und verbittert in ihre Dörfer und Städte zurück, und nur sehr wenige fanden verbrannte Erde und Ruinen vor, wo sie blühende Felder und freundliche Häuser verlassen hatten.
An jene Flüchtlingsscharen des Jahres 1940 mußten wir auf Schritt und Tritt denken, als uns der Krieg nun abermals durch die französische Landschaft trug. Ein verwandtes Bild und doch ganz anders. Damals fuhren sie in großen Lastwagen mit hochbeladenen Fuhrwerken, in Zügen ohne Ende strömten sie dahin, um von ihrem Besitz zu retten, was sich retten ließ – heute wandern sie einzeln, mit bescheidensten Kartons, mit einem Bett, manche nur mit ihrer letzten, freilich schönsten Habe, ihren kleinen Kindern, die Landstraßen entlang. Damals waren sie sinnlos davongestürzt, ohne zwingende Not, heute gingen die meisten, als es zu spät war. Oft genug war an sie die Aufforderung gelangt, ihre gefährdeten Städte zu verlassen – aber sie wollten ihr nicht folgen. War es die stille, feste Liebe zur Heimat, Haus und Herd vor allem, die sie festhielt – war es der trügerische Glaube, daß auch diesmal alles weniger schlimm kommen würde? Die sich diesem Wahn hingaben, sind inzwischen fürchterlich erwacht – sie wissen jetzt, wie es aussieht, wenn Briten und Amerikaner ihre Kreuzzüge für Menschlichkeit und „Freiheit von Not“ führen.
Es ist an dieser Stelle bereits an einem der ungeheuerlichsten Beispiele – an einem freilich nur neben anderen – aufgezeigt worden, mit welchen Methoden die Horden der Invasion über die Städte tief im Hinterland der Front hergefallen sind. (Vergleiche „VB.“ vom 15. Juni: „Das Verbrechen von Saint-Lô.“) Was damals, drei Tage nach Beginn des feindlichen Angriffs, in den Elementen sichtbar wurde, läßt sich heute im Gesamtbild erfassen – und dies Bild ist für Frankreich wahrhaft erschreckend. Zehn Tage Invasionsschlacht haben dem Lande bereits tiefere Wunden geschlagen als die sechs Wochen des Sommerfeldzuges von 1940 – und dabei feiert die Zerstörungswut der anglo-amerikanischen Geschwader täglich neue Orgien und verschlingt eine Stadt nach der anderen. Soviel ist bei jedem denkenden Franzosen im eigentlichen Kriegsgebiet und im weiteren Hinterlande der Front inzwischen klargeworden: wenn der Krieg in den bisherigen Formen weitergeht und wenn unsere Gegner sich tiefer in das Land hineinbohren könnten, so wäre das gleichbedeutend mit dem Ende Frankreichs.
Was die Normandie, eine der Kernprovinzen des Landes, heute schon an seelischer und materieller Substanz eingebüßt hat, läßt sich noch gar nicht ermessen. Der einfache Mann sieht und empfindet vielleicht nicht einmal so sehr den unwiederbringlichen Verlust einiger der stolzesten und reichsten Einzeldenkmäler der französischen Geschichte und Kunst – er beklagt vor allem die radikale Austilgung ganzer Landstädte und Zehntausender von Menschen, die unter ihren Trümmern begraben wurden, überall dort, wo sich wichtigere Durchgangsstraßen kreuzten, setzten Eisenhower und sein britischer Beigeordneter für den Luftkrieg ihre Bomber mit einer Rücksichtslosigkeit ein, für die selbst dieser Krieg kein Beispiel kennt. Niemals ist für einen derartig geringen militärischen Nutzeffekt – denn eine Unterbrechung des Straßenverkehrs ist bei dem engmaschigen und ausgezeichnet gepflegten französischen Netz ein Ding der Unmöglichkeit – die Flut absoluter Vernichtung gleich skrupellos und gleich mörderisch entfesselt worden. Es gibt ein rundes Dutzend normannischer Städte, die buchstäblich nur noch Trümmerhaufen sind. In Saint-Lô versucht man vergeblich zu erkennen, wo früher die Hauptstraßen verliefen – der frühere Stadtkern ist nur noch ein wildes Gemisch von Trichtern und Steinen, er ist nicht einmal, sondern mehrfach von Bomben ungeheuren Kalibers umgepflügt worden.
Niemals wieder, dass ahnen die Flüchtlinge, die diesen Stätten des Grauens als letzte den Rücken kehren, wird aus den Ruinen neues Leben erblühen. Wenn das deutsche Volk im Angesicht seiner ausgebrannten Städte den festen Glauben hegt, daß mit den Glocken des Friedens zugleich die Stunde des Wiederaufbauens schlagen wird – woher soll Frankreich die Kraft zu einem solchen umfassenden Werk nehmen? Verfielen nicht schon vor dem Kriege, im Wohlstand seines Überflusses, in seinen fruchtbarsten Landschaften stattliche Bauernhöfe von ehedem starben in den von der Natur stiefmütterlicher behandelten Departements nicht ganze Gemeinden ab, weil die nachlassende Volkskraft einfach nicht mehr ausreichte, das Bestehende zu erhalten? Und bis zu welcher Höhe werden die blutigen Verluste des französischen Volkes in diesem Kriege noch ansteigen? Schon heute kann man rechnen, daß allein die die Invasion vorbereitende Bombenoffensive und die ersten zehn Tage des Invasionsfeldzuges selbst 40.000 Franzosen das Leben gekostet haben. Wer die chaotischen Massengräber gesehen hat, in die sich ganze normannische Städte in wenigen Stunden verwandelten, wird geneigt sein zu bezweifeln, ob diese Zahl nicht weit hinter der Wirklichkeit zurückbleibt.
Die Gefühle, mit denen die französische Nation dieses Schauspiel der Vernichtung begleitet, lassen sich schwerlich auf eine einfache und allgemeingültige Formel bringen. Soviel ist gewiss, daß in den geschändeten Landstrichen selbst der Haß gegen England und die USA in wenigen Tagen zu einer Flamme angeschwollen ist, die nicht mehr erlöschen wird. Englische Gefangene waren bestürzt über die Drohungen und Verwünschungen, die ihnen auf ihrem Marsch durch die französischen Dörfer entgegenhallten – die Rolle der Befreier, in der Roosevelt und Churchill aufzutreten gedachten, ist schon gründlich ausgespielt. Sicherlich waren die französischen Massen in einem bis zur Selbstverleugnung gehenden Maß bereit, manche von den Handlungen unserer Feinde als ein Gebot kriegerischer Notwendigkeit zu entschuldigen – der Krieg aber, den die Anglo-Amerikaner nun nach Frankreich getragen haben, findet bei keinem mehr, der ihn sah oder gar am eigenen Leibe erlebte, Fürsprache und Verzeihung.
Wir sahen die verängstigten Flüchtlinge, die sich in die Straßengräben kauerten oder im tarnenden Buschwerk verkrochen, sobald sie nur das Geräusch eines amerikanischen Flugzeuges in der Luft vernahmen. In den ersten Tagen hatten einzelne Optimisten noch geglaubt, sie würden verschont bleiben von den Menschenjägern der demokratischen Welt, wenn sie mit weißen Tüchern oder mit Fahnen des Roten Kreuzes ihre Wagen und Karren kenntlich machten. In der Wahllösigkeit des mechanisierten Mordes verflogen bald die letzten Illusionen. Der Mann, der die Leiche seiner schönen jungen Frau aus der Hölle des brennenden Saint-Lô fuhr, sagte kein Wort in seinem gefrorenen Schmerz, aber seine Mitbürger, die gesehen hatten, wie die Beklagenswerte an seiner Seite auf offener Straße von einem Tiefflieger mit dem Maschinengewehr umgebracht worden war, als sie nebeneinander aufrecht dahingingen, riefen in wildem Grimm die Rache des Himmels auf die Mörder herab.
Niemals verspürte man aus einem politischen Gespräch mit Franzosen in der jüngsten Vergangenheit eine heißere Leidenschaft und tiefere Wahrheit, als aus dem Aufschrei einer alleinstehenden Frau, die mit tränenden Augen auf die Ruinen ihres Dorfes blickte – dabei hatte ein gnädiges Schicksal ihr eigenes Anwesen verschont. „Wenn ihr Deutschen diesen Krieg nicht gewinnen solltet,“ so sprach sie, „so will ich nur für eines am Leben bleiben: Ich will noch den Tag sehen, an dem Stalin auch die Engländer auffrisst. Sie haben es doppelt verdient, an euch so gut wie an uns!“
Es wäre falsch, wollte man diese Gefühle und die Regungen tätiger Vergeltung in der französischen Seele verallgemeinern, wenn auch im Kampfgebiet selbst der deutsche Soldat heute eine Hilfsbereitschaft findet wie nie zuvor, wenn die Wünsche der weit überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung für den Sieg unserer Waffen ehrlich sind und aus tieferer Quelle entspringen als der Hoffnung, nur so den vollen Schrecken des Krieges zu entrinnen. Abseits des Feldes der Not und Verwüstung scheint das französische Volk noch kaum erfaßt zu haben, daß heute auf den Fluren der Normandie sein Schicksal im Spiele ist. Die lahme Tatenlosigkeit des Abwartens, die seit dem Zusammenbruch von 1940 Frankreichs Tun und Denken kennzeichnet, liegt selbst in diesen Stunden der Entscheidung wie ein Schleier über dem Lande, und die Brandsäulen von Rouen und Caen, von Flers und Falaise wirken nicht weiter, als ihr feuriger Schein reicht. Es ist, als müsse die anglo-amerikanische Sintflut noch tiefer in das Land einbrechen, ehe Frankreich hinter den künstlichen Deichen seiner selbstmörderischen Ruhe erwacht. Der Weg der französischen Passion ist noch nicht an seiner letzten Station angelangt – und selbst in Frankreichs besten Herzen wohnt nicht der feste Glaube, sondern banger Zweifel, ob er sein krönendes Ende in einer Auferstehung findet.