Editorial: The ‘ruthless tyrant’ (1-3-44)

Völkischer Beobachter (January 3, 1944)

Leitartikel: Der ‚skrupellose Tyrann‘

Nach den rein agitatorischen Veröffent­lichungen der letzten zwei Jahre in den USA über die Verhältnisse in der Sowjet­union, nach den Massenerfolgen der Bücher von Davis, Willkie und anderen professionellen Politikern oder solchen, die es werden wollen, wagt nun der Schrift­steller William Henry Chamberlain den Amerikanern wieder einmal die Wahrheit zu sagen, nachdem die größten Bolsche­wistengegner mit fliegenden Fahnen – siehe Winston Churchill – in das Lager der Koordination übergegangen sind. In einem Buch über das Wesen des Bolsche­wismus charakterisiert Chamberlain den roten Diktator als skrupellosen Tyrannen. Die New York Herald Tribune stellt in einer Besprechung des Buches fest, daß die sowjetische Geschichte und ihre Deutung in der Abhandlung mit sachlicher und „geradezu undiplomatischer“ Schärfe an­ gepackt worden sei. Diese Kritik soll wohl eine Art von öffentlicher Abstandnähme darstellen, denn man muß in nordamerikanischen politischen Kreisen natür­lich damit rechnen, daß die sowjetische Diplomatie ebenfalls mit aller Schärfe gegen eine derartig ungeschminkte Darstellung protestieren wird.

Chamberlain geht in seiner wesentlich als Lebensbeschreibung Stalins gedachten Auseinandersetzung mit schonungsloser Offenheit auf die blutigen „Aufräumungen“ innerhalb der bolschewistischen Partei ein, die von Stalin durchgeführt wurden und deren „Geheimnis“ bereits durch andere Veröffentlichungen gelüftet worden war. Chamberlain hat, ganz im Gegensatz zu Davis oder Willkie, ein wirklich unabstreitbares Recht, über den Bolschewismus und seine Erscheinungsformen ein Urteil abzu­geben, das gehört werden muß. Er weilte zwölf Jahre in der Sowjetunion und gilt be­reits seit längerer Zeit als einer der besten Kenner der sowjetischen Verhältnisse. Das Buch muß als ein Versuch gewertet wer­den, die Unterwerfungs- und Auslieferungs­politik, wie sie von Roosevelt und dessen engeren Mitarbeitern betrieben wird, in ihrer illusionären Sinnlosigkeit aufzuweisen und damit einen Hemmschuh auf der schiefen Ebene des Einverständnisses mit Moskau zu legen. Chamberlain rät den ver­antwortlichen Diplomaten und Politikern der USA alle Vorsicht den Sowjets gegen­ über an. Wenn die Zeit einer Neugestaltung Europas oder Asiens kommen werde, dann werde Stalin den anglo-amerikanischen Diplomaten mehr Kopfschmerzen verur­sachen, als diese heute annähmen.

Chamberlain konnte zurzeit, da er sein Buch abfaßte, noch nicht ahnen, daß des­sen Erscheinen zusammenfallen werde mit der bekümmerten Rückkehr des USA-Präsidenten aus Teheran. Dort hatte der USA-Diktator Gelegenheit, einmal den Sowjet­gewaltigen in eigener Person und in Ori­ginalpose kennenzulernen. Es ist mancher­lei durchgesickert, daß diese Bekanntschaft nicht sonderlich die Stimmung Roosevelts gehoben habe. Der erste schwere Zusam­menprall, von dem Chamberlain im Allgemeinen und theoretisch spricht, wurde von dem USA-Präsidenten praktisch erlebt, und man kann sich vorstellen, daß dieser das neu erschienene Buch mit Stoßseuf­zern durchsehen wird, nachdem sich die glänzende Fassade des Willkie-Buches als bloßer Schein herausstellte. An seiner Entschlossenheit, mit dem Bolschewismus zu paktieren, wird zwar weder Realität noch Theorie rütteln können, jedoch wäre bei­des geeignet, ihm die Gefährlichkeit und die Sinnlosigkeit seines ehrgeizigen Spieles aufdämmern zu lassen.