Landschaft Normandie
Von Ernst Gagel
Die Normandie ist eine geschichtliche, keine landschaftliche Einheit. Sie zerfällt in das einförmige, hohe Kreideplateau der Obernormandie und in die abwechslungsreichere, tiefer gelegene Niedernormandie. Zwischen zwei ausgeprägten Großlandschäften eingeschlossen – dem abgetragenen, dunklen Gebirgsrumpf der Bretagne im Westen und der freundlichen, tafelförmigen Schichtstufenlandschaft Nordfrankreichs im Osten – bildet die Niedernormandie ein Übergangsglied. Ihr wechselvoller Charakter zeigt sich am stärksten in den Küstenformen. Von Calais bis Le Havre zieht sich in gerader Front und lückenlos wie eine weiße, von einer überhängenden grünen Grasnarbe bedeckte Mauer die turmhohe Kliffküste der Kreide hin, durchbrochen nur von den wenigen größeren Flüssen, während die Täler der kleineren hoch oben in der Kliffwand enden; sie schließt das Hinterland völlig von der See ab, natürliche Häfen gibt es nicht, deshalb sind die Küstenorte dünn gesät und klein.
Von der Bucht von Saint-Michel bis zum Golf von Biskaya herrscht die völlig andere, aber ebenso einheitliche Steilküste aus Granit und Gneis. Finster und zerrissen, von tosender Brandung umgeben, strecken sich steile, von Klippen umsäumte Landzungen weit ins Meer hinaus, dazwischen aber greifen stille Buchten tief ins Land ein und bilden unzählige Naturhäfen; die Beziehungen der Bevölkerung zur See sind deshalb seit jeher außerordentlich eng, ein Ort sitzt an der Küste neben dem andern – ausschließlich Fischersiedlungen – das Hinterland dagegen ist fast menschenleer.
Dazwischen erstreckt sich die Küste der Niedernormandie. Von Trouville bis zum nordöstlichen Zipfel Cotentins treten Juraschichten wechselnder Zusammensetzung an das Meer; wo Mergel und Ton den Ufersaum aufbauen, dort stellen sich sanft geschwungene Hänge und Terrassen ein; wo der Jurakalk die Küste bildet, kommt es zur Ausbildung eines Kliffs. Letzteres ist zwischen den Mündungen von Orne und Vire der Fall. Das Kliff ist niedriger als das der Kreideküste, so dass die mit flachen Landungsbooten und Flößen gelandeten Engländer versuchen konnten, es mit Leitern zu entern, aber das Gestein ist außerordentlich hart, der von einer dünnen Sandschicht bedeckte Felsrand ist deshalb bis weit ins Meer hinaus von heimtückischen Klippen aller Größen durchschwärmt.
Östlich der Orne beginnt das Hohe Kliff der Obernormandie. Es wird allerdings noch zweimal von flachen Anschwemmungsküsten unterbrochen, westlich der Touques und dort, wo die Seine die Kliffwand zerteilt, dann aberzieht, es mauerartig und scheinbar endlos nach Osten. Die gleiche dünenbesetzte Flachküste, die den Beginn des weißen Kreidekliffs noch in einzelne Stücke auflöst, zieht sich von der Vire nach Norden bis Saint-Vaast und rings um die Bucht von Mont Saint-Michel. Auch auf der Westseite Cotentins herrscht sie auf weiten Strecken, hier steht ihr heller Sand- und Dünenstrand in buntem Wechsel mit kurzen Stücken finsterer und zerklüfteter Steilküste. Der flache Strand zwingt schon kleine Schiffe, weit draußen Anker zu werfen. Nur manchmal wird er durch schmale Rinnen unterbrochen, die von den die Meere zustrebenden Wasserläufen in die Strandplatte gegraben wurden – sie bieten den kleinen Küstenfahrzeugen willkommene Gelegenheit, näher ans Land zu kommen. Dies gilt vor allem von Vire, Aure und Orne, deren Unterläufe dazu noch von den Gezeiten zu breiten Trichtermündungen ausgeweitet wurden.
Die ganze Niedernormandie westlich einer Linie, die man von Isigny über Caen nach Argentan ziehen kann gehört wie die Bretagne und das jenseits des Kanals herüberschauende Cornwell zum armorikanischen Massiv. Seine dunklen Schiefer, Phyllite und Gneise erzeugen das ruhige Auf und Ab einer sanft geschwungenen Hügellandschaft. Unterbrochen wird dies Bild von einzelnen harten Granitzügen, die wesentlich stärkeres Relief hervorrufen. Dazu gehören die Collines de Normandie, die in mehreren Ketten von der Saint-Michel-Bucht nach Südosten ziehen. Auch die beiden nördlichen Eckpfeiler der Cotentin-Halbinsel, die Bastionen von Saint-Martin und Barfleur, sind harte Granitklötze – deshalb hebt sich der Nordteil der Normannenhalbinsel fast 200 Meter über dem Meeresspiegel empor, während der Hals von Carentan und Lessay nur eine Höhe von knapp 30 Meter erreicht. Die nordwestliche Landzunge von Saint-Martin fallt im schroffen, steilen Kliff bis zu 120 Meter zum Meer ab, die nordöstliche Halbinsel von Barfleur dagegen zeigt sanftere Formen.
Südlich Bayeux liegt die kleine Landschaft Bocage. Sie gab ihren Namen für ein typisches Landschaftsbild, das auf beiden Seiten des westlichen Kanals gleich stark ausgeprägt ist, der Bocagelandschaft. Wiesen, Weiden und Felder sind alle eingesäumt von fast mannshohen Erdwällen, deren eine Seite stets von einem Graben begleitet wird. Eine Hecke krönt die Erdaufschüttung – ein undurchdringliches Dickicht von Weißdorn-, Haselnuss-, Brombeer- und Weidengestrüpp, überwuchert von Efeu und anderen Schlinggewächsen, das Ganze überragt von einzelnen oder in malerischen Gruppen stehenden Ulmen, Pappeln und Eschen. So erscheint das ganze Land, von einem höhergelegenen Punkt aus gesehen, wie geschlossener Wald, aus dem ab und zu der spitze Helm eines Kirchtums emporlugt. Die Wallhecken bieten manche Vorteile, sie schützen Haus und Hof vor den Stürmen des Atlantiks, auch kann das Vieh das ganze Jahr im Freien weiden; jedes einzelne Feld gleicht einer kleinen Befestigung. In der fruchtbaren Kalkebene zwischen Orne und Dives sind die Wälle, Hecken und Gräben heute beseitigt, dafür dehnen sich Raps- und Getreidefelder, auf denen vom Mai bis zum Juli Pferde weiden.
Die Siedlungsweise ist dem Charakter der Bocage angepasst, es herrscht ausgesprochene Streusiedlung, eigentliche Dörfer findet man nur in einem schmalen Streifen nördlich und südlich Caen. Die Gehöfte verschwinden förmlich hinter einem Hain von Obstbäumen. Die steilen, weit Vortragenden Walmdächer sind mit Stroh oder Schiefer gedeckt, sie ruhen auf Fachwerkwänden, dunkelrot oder schwarz bemalten Balken und weiß getünchten Feldern aus Flechtwerk und Lehm. In den Granitgebieten der nördlichen Normannenhalbinsel und des normannischen Hügellandes im Süden weicht der freundliche Fachwerkbau dem schweren, düsteren Steinbau aus Granitquadern.
Die Niedernormandie ist ein grünes Land, drei Viertel der Fläche wird von Wiesen und Weiden eingenommen. Ackerbau tritt völlig zurück, wenn man von der Campagne von Caen absieht, denn der Boden ist zu kalkarm, um Getreidebau zu gestattet, und infolge des ozeanischen Klimas sehr feucht. Mit einer jährlichen Regenhöhe von 100 bis 150 Zentimeter empfängt sie doppelt so viel Niederschläge als das benachbarte Kreideplateau (Nürnberg 58,1 Zentimeter), auch fallen sie zum großen Teil als langanhaltende Landregen. Die Niedernormandie ist deshalb reines Viehzuchtgebiet, ihre schweren Kaltblutpferde wurden schon von Ludwig XIV. gerühmt.
Ganz anders das Kreideplateau der Obernormandie. Völlig eben zieht es sich in einer Höhe von etwa 200 Meter dahin. Die Kreide ist durchlässig, die Hochfläche wasserarm, aber sie ist bedeckt von einer fruchtbaren, lehmigen Verwitterungsschicht; die Viehzucht ist deshalb verschwunden und reiner Ackerbau an ihre Stelle getreten. Wohin man blickt – tischebene Flächen, schnurgerade Straßen und endlose Alleen, erst mit Annäherung an die Täler wird das Relief unruhiger. Die Täler selbst sind tief und steilwandig eingeschnitten, sie zerlegen die Hochfläche in einzelne Platten. Im Gegensatz zur ermüdenden Eintönigkeit des Plateaus bieten sie abwechslungsreiche, reizvolle Bilder. Gemächlich winden sich die Flüsse durch die grüne Talaue, die Hänge sind zum großen Teil bewaldet, hinter Baumgruppen und Hangvorsprüngen erscheinen Mühlen, Dörfer und Städtchen, Schlösser und Ruinen markieren oft die Mündungen von Seitentälern. Die untere Seine steht schon unter dem Einfluß des Meeres, bis Rouen hinauf – soweit reichen die Gezeiten – wird sie von Deichen eingesäumt, hinter denen sich fruchtbare Flussmarschen mit großen Obstbaumkulturen und reichen Dörfern ausbreiten.
Zum Kanal bricht die Obernormandie im „Hohen Kliff“ ab, nach Westen zu endet sie in einer 100 Meter hohen Schichtstufe. Diese markante Landstufe zieht von Dives zunächst in einen eindrucksvollen, ungegliederten Trauf nach Süden; erst dort, wo sie die Percheberge ersteigt und nach Osten abbiegt, wird sie durch Buchten, Vorsprünge und abgetrennte „Zeugenberge“ stärker aufgelöst und durch Terrassen gestuft. Sie ist als örtliches Hindernis für den Verkehr von Bedeutung – die Straßen erklimmen sie in großen Kehren, die Bahnen überwinden sie teilweise in Tunneln. Zu Füßen der Landstufe breitet sich die einzige größere Niederung der Normandie, die von der Dive durchzogenen Pays d’Auge. Inmitten seiner trockenen Umgebung liegt hier ein Streifen Land, der manche Ähnlichkeit mit Holland aufweist – Kanäle, Dämme und Schleusen teilen das Land schachbrettartig auf und sorgen für die Entwässerung der ursprünglich versumpften Niederung.
Die Normandie ist seit den ältesten Zeiten besiedelt, vor allem die Gegend von Caen. Aus der Steinzeit sind viele der Steinsetzungen bekannt, die man früher als Kultstätten auffasste, aber vermutlich nur einfache Grabstätten darstellen; allein das Departement Calvados zählt deren 47 auf. Alle größeren Orte sind vorrömisch. Trotzdem ist besonders die Niedernormandie arm an Städten. Rouen, die alte Hauptstadt, liegt dort, wo einige Inseln den Übergang über den Strom erleichtern – der letzte Brückenort der Seine. Die Wassertiefe reicht nur für mittelgroße Dampfer aus, trotzdem ist es seit alters her der Seehafen der französischen Kanalküste und spielt als Umschlagplatz für Massengüter, besonders Kohle, eine große Rolle. Am Güterverkehr gemessen, ist. es nach Marseille der zweitgrößte Hafen Frankreichs.
Als Rouens Vorhafen wurde im 16. Jahrhundert von Franz I. Le Havre de Grace gegründet. Es ist wie Cherbourg eine rein künstliche Schöpfung, denn der glatte, flache Strand wies jede Annäherung größerer Schiffe ab, erst durch den Bau langer Molen und durch kostspielige Baggerarbeiten wurde ein Hafenbecken geschaffen. An seinen Kais legen heute die großen Fahrgastschiffe an; als Umschlagplatz dient es nur für Wertgüter, vor allem Kaffee – es besitzt den größten Kaffeemarkt Frankreichs – Kakao, Metalle und Erdöl. Vom Hinterland ist die Stadt völlig abgeschnitten. Noch bis zum ersten Weltkrieg gab es nur eine Bahnlinie, und sie führte nach Paris.
Caen, die alte Hauptstadt der Niedernormandie, stand seit alters her in starker Rivalität mit Rouen und war früher unbestritten kulturelles Zentrum. Hier wurde der normannische Stil geboren und entwickelt, von hier aus breitete er sich nach allen Seiten hin aus und eroberte sich seit 1066, dem Jahr der normannischen Invasion, die ganze britische Insel – ja sogar die Bausteine aus Caens Umgebung wurden über den Kanal verschifft. Seine beiden alten Kathedralen und die vielen anderen normannischen Bauten stellten kunstgeschichtliche Schätze dar. In jüngster Zeit ist Caen durch Verwertung der nahegelegenen Eisenerzlager zur Industriestadt geworden, sein Hafen wurde ausgebaut und mit dem Meer durch einen Kanal für kleine Schiffe verbunden.