Der Verrätergeneral in der Zwickmühle –
De Gaulle muß in Washington antreten
Von unserer Stockholmer Schriftleitung
…
Die zehn langen Tage
Von Kriegsberichter Richard Oeder
SS-PK. Langsam weicht der bleischwere Druck von der Stirn des Erwachenden. Vorbei sind die spannend-folternden Träume, die in grausig verzerrten Bildern den ganzen Schrecken der überwundenen Gefahr noch einmal heraufbeschworen. Aber erst nachdem er eine Weile ungläubig blinzelnd in die Stube sah, erst nachdem seine Maschinenpistole und endlich das entspannt-zufriedene Bubengesicht seines noch schlafenden Fluchtgefährten von der fast unwirklich schönen Tatsache überzeugt, beginnt er zu glauben, daß es ihm, dem SS-Untersturmführer F. gelungen ist, nach zehntägigem Aufenthalt hinter den Feindlinien der Gefangenschaft zu entkommen. Immer wieder schüttelt er den Kopf, wenn er das Kalenderblatt an der Wand gegenübersieht: 20. Juni. Eine Weile später greift er nach seiner Pistole und zählt die Kerben, die er an jedem Abend in das Griffstück schnitt. Es sind tatsächlich zehn Einschnitte, es muß also stimmen.
Noch einmal erlebt er die nächtliche Fahrt seiner Aufklärungskompanie – auf gesessen auf „Panthern“ – in den Morgen des 9. Juni, auf der Suche nach dem Feind. Im ersten Gefecht werfen sie die Kanadier, kämpfen ein Mehrfaches ihrer eigenen Kopfzahl nieder, lassen als Schildwache über der Stätte ihres ersten Sieges ihre ersten Toten, darunter ihren Chef zurück. Sie rollen weiter unter dem Sternenhimmel der Normandie, dem nächsten Dorf entgegen. Ist es feindfrei? Mit einem Zug will sich der Untersturmführer Gewissheit holen. Vorsichtig pirschen sie von Haus zu Haus, sichern, geben Feuerschutz. Ungestört kommen sie bis zu einem Hohlweg, gebildet von einer Mauer zur Linken und einer undurchdringlichen Hecke zur Rechten. Vorn plötzlich ein lauter Schrei, ein deutscher Anruf: „Halt, oder wir schießen!“, danach des Untersturmführers Antwort: „Macht keinen Unsinn, wir sind Deutsche!“
Das Wort „Deutsche“ ist wie ein Signal. Sofort ein Zischen neben, zwischen und über ihnen, ein dutzendfaches Aufkrachen, schon unterbrochen vom Schrei Getroffener, eine Handgranatenwolke war über sie geregnet. In den Feuerschein der Detonationen fegen pfeifend die Geschoßgarben der Maschinengewehre und Maschinenpistolen, spritzen die Querschläger von der Wand. Das ist das Ende! Doch jetzt reißt sich der Untersturmführer hoch, steht, und seine Stimme übertönt den Lärm: „Alles voraus, Verwundete mitnehmen, erste Gruppe mir nach!“
Im feindlichen Dorf
Was die Berechnung der Kanadier vergaß, erkannte er auf den ersten Blick: Ein Durchbruch nach vorn mußte den Gegner verwirren und so seinen Zug retten. Das kühne Wagnis gelingt, der Zug entkommt. Der SS-Führer aber ist mit vieren seiner Männer abgeschnitten inmitten des nun von Gegnern wimmelnden Dorfes. Dem Feuergürtel der Maschinengewehre waren sie entkommen, sich Wehrende hatten sie niedergemacht. 30 Männer. Die Verwundeten und das wichtige Aufklärungsergebnis waren gesichert, sich selbst aber hatten sie dafür aufgegeben. Noch schützt sie die Dunkelheit vor den streifenden Kanadiern, aber schon graut im Osten der junge Tag. Und wieder ist der Entschluss des Untersturmführers fertig: „Wir verstecken uns in den Häusern, bis das Dorf von den Unsern genommen wird.“ Von neuem beginnt das Schleichen und Kriechen, das Ducken und Lauern. Schrittweit sind manchmal nur die suchenden Gegner noch entfernt, die Herzen hämmern, die die Pistolen umklammernden Hände aber sind eiskalt ruhig. Endlich stehen sie vor einer Mauer. Ein Sprung über das letzte Hindernis, tastend wird eine knarrende Tür geöffnet. Das Erschrecken über die eigenen hallenden Schritte muß noch überstanden Werden – dann sind sie in „Sicherheit.“ Jeder kauert sich in einen Winkel des großen Gebäudes, aber die überspannten Nerven verweigern den Schlaf.
Stunden später leuchtet der Tag durch die Scheiben. Jetzt läßt sich ungestört das Treiben der Kanadier beobachten. Immer neue Kolonnen ziehen in das Dorf ein, Infanterie, Panzer, Artillerie und Lastkraftwagen. Sie brechen die Häuser auf, holen sich Matratzen und Kissen und beginnen ein wüstes Gelage. Überall sitzen sie in Gruppen, spielen und johlen – schon halb trunken. Noch ist die Lage der Lauernden nicht schlecht. Die noch im Ort verbliebenen Mädchen, der Wein und die Müdigkeit lassen bei den Feiernden kein Interesse an der nächsten Umgebung erwachen. Und doch kommt die Entdeckung.
Ehe die Sonne ihren höchsten Stand erreicht, öffnet sich die Tür zum Nebenraum. Ein Zivilist tritt ein und erstarrt nach wenigen Schritten, als er vor sich einen deutschen Untersturmführer sieht, der gerade durch die Fensterritzen auf den Vorplatz schaut. Ein erschreckter Ruf, dann verläßt er fluchtartig den Raum und alarmiert mit lautem Zuruf die Kanadier. Bevor sich diese aber noch den Schlaf aus den Augen gerieben haben, brechen die Deutschen aus ihrem Unterschlupf. Ihre Geschosse werfen die Auffahrenden um, bahnen den Weg bis zu einer Lücke in der nahen Hecke. Im Vorbeilaufen sehen sie ein offenes Kellerfenster. „Hinein alle Mann!“ bestimmt der Untersturmführer. Schon lassen sie sich durch die Öffnung fallen, landen in einem großen, düsteren Raum. Im Schein eines Zündholzes entschleiert sich das Versteck als ein Weinkeller mit großen Fässern, vollen Regalen und gehäuften Kisten. Das ist bei dem verfluchten Schnüffelsinn und Durst der Kanadier ein äußerst ungünstiges Versteck. Zur Wahl bleibt jedoch keine Zeit. Schon laufen draußen schreiend die ersten Verfolger vorbei, gleich wird das große Suchen losgehen.
Zwischen Weinfässern unter den Kanadiern
Der Zugführer hat einen seiner tollen Einfälle: „Unter die Fässer!“ zischt er. Wenn es noch eine Rettung gibt, ist es dieser Schlupfwinkel. Genau als er sich als letzter in den feuchten, vielleicht einen halben Meter tiefen Hohlraum unter den Rotwein- und Ziderfässern geschoben hat, öffnet sich die Tür und die Garbe einer Maschinenpistole fegt in halber Höhe gegen die Wände. Dahinter springen drei, vier baumlange Burschen mit aufgepflanztem Seitengewehr herein und stochern umher. Einer stößt sogar gegen die Fässer, gottlob zwischen den Männern hindurch. Die fünf haben bereits mit sich abgeschlossen, nicht einmal ihre Pistolen können helfen, keiner kann sich rühren. Jetzt stehen die Gegner einen Augenblick untätig. In die Stille, in der die Verfolgten glauben, ihre klopfenden Herzen würden sie verraten, rattern von draußen immer wieder die Feuerstöße; trotz ihrer Überzahl scheinen die Suchenden einen Heidenrespekt vor den Deutschen zu haben. Nach dieser gefährlichen Pause aber wird der Alkohol das Rettungsmittel. Der Lichtkegel der suchenden Taschenlampe streift über die Regale von den Fässern und trifft – goldglitzernde Köpfe von Sektflaschen. Dieser Fund beendet sofort den militärischen Eifer und Ehrgeiz der Kanadier, Korken knallen, leere Flaschen zerschellen. Jetzt öffnet sich auch die große Tür. Durch die helle Öffnung treten immer mehr Durstige ein, den Stahlhelm im Genick, lachend beim Anblick der Flaschen. So hat die verfluchte Invasion doch auch ihre an genehmen Seiten. Come, my boy, laß die verfluchten Germen laufen.
Die fünf warten. Inmitten der Orgie der Kanadier liegen sie, verzweifelnd und doch hoffend. Wenn nur die Betrunkenen nicht auf die Idee kommen, den Inhalt der Fässer zu untersuchen. Nach fünf qualvollen Stunden kommt endlich die Erlösung, ein Sergeant treibt seine volle Herde davon, nicht aber, ohne sich selbst einige Flaschen in die Tasche zu stecken.
Und dann folgt eine folternd lange Nacht, die erfüllt ist vom Geräusch der Kolonnen, von fern dröhnenden Feuerüberfällen deutscher Batterien und nahen Abschüssen der Briten. Der Untersturmführer prüft die Möglichkeit, sich zu den höchstens fünf bis sechs Kilometer entfernten deutschen Linien durchzuschlagen. Aber jeder Schritt auf die belebte Straße wäre das Verderben. Bleibt nur das Kellerfenster. Als der Zugführer vorsichtig seinen Kopf hinaussteckt, fährt er schnell wieder zurück. Kaum zehn Schritte absteht ein Doppelposten und beobachtet aufmerksam das Gelände. Wieder in der Höhle, zieht, er mit seinen Getreuen die Bilanz: fast ohne Munition, seit 24 Stunden nichts im Magen, ohne Fluchtmöglichkeiten, müssen sie auf einen Angriff der Ihren oder eine günstige Gelegenheit warten. Sie stellen einen Warnungsposten an das Fenster und bleiben auch jetzt noch ihrem Befehl getreu: jede neue Batterie, jeden Panzer und jede Kolonne registriert der Untersturmführer in einer Skizze, die bald unschätzbar wichtiges Material birgt.
In den folgenden Tagen und Nächten werden sie immer wieder gestört durch Plünderer, die nach Alkohol forschen. Einer vergisst den Hahn eines großen Rotweinfasses zu schließen. Als er endlich geht, ist der ganze Boden mit Weinpfützen bedeckt. Am schlimmsten setzt den Männern die quälende Ungewissheit und der Hunger zu.
Flucht durch deutsche Minenfelder
Am vierten Tag heulen die Geschosse deutscher Werfer gegen den anderen Dorfausgang. Von der Wucht der Einschläge stürzen die Flaschen von den Bordbrettern. Am Abend des sechsten Tages beschließt der Untersturmführer, zu handeln. Wenn er noch weiter wartet, wird ihr Kräftezustand eine Flucht unmöglich machen. Seit zwei Tagen ist der Unterscharführer krank. Mit ihm darf er nicht rechnen. Der kleine Sturmmann Sch. bleibt freiwillig bei ihm. In einer der beiden nächsten Nächte sollen die beiden nachkommen. Der Untersturmführer aber muß mit seinem Wissen über den sich vorbereitenden Feindangriff zurück, koste es, was es wolle. Eine List hilft. „Zufällig“ liegen am Abend, als die Posten aufziehen, ein paar Sektflaschen im Gras. Das Weitere überlässt er der Dienstauffassung der Posten, und er wird nicht enttäuscht. Zwei Stunden später klettert er mit zweien seiner Grenadiere aus dem Loch. Nach abenteuerlichem Marsch erreicht er sein Ziel. Das Grauen überfällt ihn erst, als man ihm auf der Karte die neuen Minenfelder zeigt, durch die er ahnungslos schritt.
Die Zurückgebliebenen werden trotz weiterer Besuche der Feinde im Keller nicht behelligt. Am Abend des zehnten Tages endlich wagt der Unterscharführer den Versuch. Am Mittag zuvor sollten sie jedoch noch einmal durch die Hölle schreiten. Das Dorf, eine wichtige Aufmarschbasis des Gegners, wird auf Grund der Meldungen ihres Führers mit Wirkungsfeuer belegt. Aus unmittelbarer Nähe erleben sie die fürchterliche Wirkung deutscher Geschosse. Einem Tornado gleich jagt der Granatschauer zwischen die dicht belegten Straßen und Häuser. Von wohlgezielten Schüssen getroffen, bricht ein Turm, der Sitz dreier feindlicher Artilleriebeobachter, vor ihren Augen zusammen. Explodierend gehen Munitionsstapel und Benzinlager hoch, Panzer brennen aus und Geschütze werden zerschlagen. Auf den Weinkeller schlägt ein Volltreffer, reißt das Haus auf. Nur die schützenden Fässer retten die beiden Flüchtlinge. Das sind ihre letzten Stunden im Versteck. Das Chaos beim Feind ausnützend, verlassen sie es in den Abendstunden. Zwei Doppelposten müssen umgangen werden, ein anderer wird unschädlich gemacht. Fünf Stunden brauchen sie, um fünf Kilometer zu schaffen. Dann aber sind sie durch.
In den Morgenstunden des 19. Juni laufen zwei total erschöpfte, unkenntlich verdreckte Gestalten winkend und rufend auf die deutschen Stellungen zu. So kehrten der SS-Unterscharführer F. und der Sturmmann Sch. heim in die große Front.