Blutende Normandie
Von Kriegsberichter Fritz Zierke
pk. Rouen, Anfang Juli –
Seit vier Wochen ächzt Rouen, die einst so stolze, türmereiche Hauptstadt der Normandie, unter der Folter des Krieges. Hier setzte die Ouvertüre der Invasion ein, als über den für den Einfall der anglo-amerikanischen Heere vorausbestimmten Landstrichen noch trügerische Ruhe lag. Während die Landungsflotten unserer Feinde erst den Absprunghäfen zustrebten, wüteten über Rouen bereits ihre Bomber, und so war die Stadt schon schrecklich gekennzeichnet, als in den Morgenstunden des 6. Juni auch Bayeux und Saint-Lô, Lisieux und Vire den Geist der „Befreiung“ in seinem tiefsten Wesen kennenlernten.
Freilich, das Martyrium ihrer Gefährtinnen bedeutete für die ehrwürdigste der normannischen Städte nicht etwa ein Ende der eigenen Leiden. Auch das Maß ihrer Schmerzen wurde täglich von neuem gefüllt, und seit Wochen sind die Brände in ihren Mauern nicht verglimmt. Unter Blut und Wunden erkennt man kaum mehr den einst so wundersamen Leib, und was von seinen Schönheiten ungeschändet blieb, ruft inmitten der Zerstörung umso schneidender Klage und Anklage über die Trümmer. Noch steht – wie lange noch? – die Herrlichkeit der edelsten unter den zahlreichen Kirchen der Stadt St. Quen. Während das Gefüge der Kathedrale und die einmalige, von ihrem in einem Fünfeck gefassten Portal beherrschte Fassade von St. Maclou von Bomben entstellt wurden, blieb St. Quen unversehrt. Ihr verspielter Vierlingsturm trägt noch das steinerne Filigran seiner Plattform, die kein Helm deckt. Aber der Name, den einst der Stolz der gesamten Landschaft diesem Werk gegeben hatte, wirkt heute wie ein Stachel: „Die Krone der Normandie“ – sie war das kostbarste Stück unter den vielen Schätzen der normannischen Erde, sie gleicht heute dem Geschmeide, das eine geliebte Tote schmückt.
Es ist ein oft wiederholtes Wort, Paris sei Frankreich, aber es deckt doch nur eine halbe Wahrheit. Gewiss, mehr als in jedem anderen Lande ballten sich in der Kapitale Frankreichs die politischen und geistigen Energien der Nation, von ihr wurden die Schicksale des Staates und Volkes mit diktatorischer Vollmacht bestimmt. Aber wenn Paris so der Sammelpunkt aller Kräfte Frankreichs war, die Wurzeln dieser Kraft reichten doch hinab in den Mutterboden der so gern verachteten Provinz. Paris, das war die Verkörperung des Landes doch erst, seitdem der absolute Staat das französische Leben unter ein Gesetz gebeugt hatte, die Herkunft der Größe Frankreichs, sein voller Beitrag zum unvergänglichen Erbe des Abendlandes, lag in allen Landschaften verankert, die einst den Samen germanischer Fruchtbarkeit in sich aufgenommen hatten.
Daß Frankreich in der tödlichen Gefahr schwebte, diesen Urgrund seines Daseins verdorren zu lassen, ist nicht eine Erkenntnis, die erst der gegenwärtige Krieg hervorgebracht hat. Seitdem der zentralistische Ungeist der Revolution von 1789 dem Selbstbewusstsein der Provinz das Rückgrat gebrochen und die Gleichmacherei der Dritten Republik den Prozess der Ausdehnung der Provinz in weniger radikalen Formen, darum jedoch nicht weniger nachhaltig fortsetzte, sanken die Städte des Landes herab zu Monumenten. Die natürlichen Kräfte der Tradition verkümmerten, im Getriebe von Paris verbrauchten sich die Energien, die das Land noch immer hervorbrachte, erschreckend rasch. Bis zur Katastrophe von 1940 predigten alle Warner, die dem französischen Volk das Unheilvolle dieser Entwicklung vorhielten, tauben Ohren. In der Besinnung nach dem Zusammenbruch konnte sich kein Franzose mehr den Einsichten verschließen, die im Auslande eher Boden gewonnen hatten als in Frankreich selbst. Der Ruf „Zurück zur Provinz!“ war einer der ersten Programmpunkte der Männer, die nach dem Waffenstillstand versuchten, den Neuaufbau Frankreichs von der Theorie her in Angriff zu nehmen. Niemand kann behaupten, daß die Theorie sich jemals in Wirklichkeit übersetzt habe, in diesem Punkte noch weniger als in anderen, aber sicherlich durfte auch niemand erwarten, daß von einer Formel solche Wirkungskraft ausgehen werde.
Denn die Frage nach der Zukunft der französischen Provinz ist letztlich die Frage des französischen Daseins überhaupt: Wenn Frankreich noch einmal die Kraft aufbringt, zum Rang einer Großmacht zurückzufinden, so können die Wasser des Lebens nur den Quellen entspringen, die auch früher den schöpferischen Brunnen der Nation speisten. Bliebe Paris im gleichen Ausmaße wie bisher von der Barbarei des Luftkrieges verschont, stünde es dann am Ende des Krieges in seiner alten Majestät als die am wenigsten Versehrte Hauptstadt unter den Hauptstädten Europas da. Es wäre eine Königin ohne Untertanen, wenn der Krieg ganz Nordfrankreich in gleicher Weise umpflügt und auslöscht, wie er in wenigen Wochen die Gebiete umgepflügt hat, die sich Amerikaner und Briten als ihre Einfallstore nach Frankreich auserwählten.
Denn diese Bereiche, von Französisch-Flandern über das Artois und die Pikardie bis zu den grünen Weiden der Normandie, und gerade sie noch mehr als ihre Nachbarlandschaften, sind nicht einfach Provinzen neben den anderen, sondern das Kraftreservoir jeder denkbaren französischen Erneuerung. Geht über sie die Walze des Krieges mit der Brutalität hinweg, die den bisherigen Weg der „Befreier“ kennzeichnet, so kann niemand und nichts den schleichenden Tod Frankreichs aufhalten. Die Ruinen von Rouen sind ein furchterregendes Zeichen: Diese Stadt war nächst Paris die stolzeste, von großer Geschichte geadelte Stadt Frankreichs. Aufs engste mit der gesamten normannischen Landschaft verwachsen, war sie auch heute noch, wie in der Vergangenheit, Symbol tätigen Lebens. Die Bauten der alten Bürgerherrlichkeit, an denen Rouen ebenso reich war wie an mittelalterlichen Kirchen, ragten nicht als versteinerte Hüllen in die Gegenwart; der gleiche Schaffensdrang, aus dem sie einst geboren wurden, hatte in unserer Zeit Rouen zum Rang eines der führenden Umschlagplätze des Landes verholfen. Wiewohl 70 Kilometer landeinwärts gelegen – eine Entfernung, die sich auf dem Wasserwege des vielfach gewundenen Laufes der Seine verdoppelte – war sein Hafen doch mittleren Schiffen zugänglich, und es gab Jahre, in denen es nach der Menge der durchlaufenden Waren sogar Marseille überflügelte. Heute liegen die Werften und Stapelhallen des modernen Rouen ebenso in Staub wie sein historischer Stadtkern. Es ist, als seien von neuem die britischen Geister entfesselt, die vor fünfhundert Jahren hier die Heilige der französischen Nation dem Scheiterhaufen überlieferten.
Noch bitterer als Rouen hat Caen gelitten, an Würde und Gewicht die zweite, an Größe und wirtschaftlicher Bedeutung nach Le Havre und Rouen die dritte Stadt des normannischen Landes. Das gesamte Viertel zwischen Orne und dem Mittelpunkt der Stadt um die großartige Peterskirche ist buchstäblich in einen Steinhaufen verwandelt, in dem man stellenweise nicht einmal mehr den Zug der früheren Straßen erkennen kann. St. Peter selbst – in seiner Mischung zwischen brausenden Formen des Ekstatischen ausgehenden Mittelalters und der hereinbrechenden steinernen Sprache der Renaissance ein Gebilde ohnegleichen – ist von den Granaten schwerer britischer Schiffskaliber rettungslos verstümmelt. Nur noch ein Stumpf des gotischen Turmes ragt schmerzvoll in den Himmel. Aus dem Gewölbe des Schiffes, das zu den schönsten Bauwerken der normannischen Kunst zählte, sind mehrere Joche herausgerissen. Die Fachwerkhäuser des 14. und 15. Jahrhunderts, von denen Caen noch einige hütete, sind ein Raub der Flammen geworden, hier ebenso wie in Lisieux, das am getreuesten das Gesamtbild einer normannischen Stadt jenes Zeitalters bewahrt hatte.
Gerade diese Verluste sind unwiederbringlich und treffen Frankreich besonders hart. Denn wenn es in seinem Reichtum an Kirchen und Schlössern hinter Deutschland und Italien nicht zurückstand, so besaß es doch nur wenige Städte von geschlossener Individualität. Fast überall hatte die Roheit späterer Zeiten, die Zerstörungswut der Revolution und die kommerzielle Barbarei der Epoche der Bourgeoisie und der Grundstückspekulanten entsetzliche Lücken in die Ganzheit des überlieferten gerissen. Umso kostbarer waren die wenigen Beispiele, die dieser Verfolgung entgangen waren, um so glühender trifft die Kunde von den Verwüstungen der Anglo-Amerikaner das Herz jedes Franzosen, der seine Heimat kannte. Rouen, Falaise, Vire, Lisieux, für das, was hier unterging – und von den Kleinstädten blieb nichts übrig – besitzt Frankreich keinen Ersatz.
Aber es sind nicht nur die großen Namen, die heute den Passionsweg der Normandie säumen. Die Provinz verliert unter dem Kriege mehr als die Edelsteine ihrer Krone, sie verliert ihre Seele. Gerade das war es, was sie – neben der Bretagne – vor allen anderen Landschaften Frankreichs auszeichnete: ihre Herrlichkeiten standen nicht, fast fremd, in einer Umwelt, die inzwischen verödet war, die ihren Stil, ihr kulturelles Antlitz eingebüßt hatte wie weite Teile Süd- und Mittelfrankreichs. Hier herrschte noch die beglückende Harmonie eines Ganzen. Land und Städte antworteten einander in der gleichen Sprache des Ausdrucks, ein gesundes, selbstbewusstes Bauerntum und betriebsame Kleinbürger fühlten sich fest verwurzelt in ihrer heimatlichen Erde.
Wer als Deutscher aus den herabgekommenen Dörfern der Provence oder auch der Champagne zum erstenmal in die Normandie kam, verspürte hier einen Menschenschlag an der Arbeit, dessen germanisch geprägtes Wesen die Verwandtschaft mit uns nicht verleugnen konnte, wenngleich eine einseitig gegen das Reich ausgerichtete Führung des gesamten französischen Fühlens und Denkens das Ihre getan hatte, derartige Empfindungen zu ersticken. Nur im normannischen Raum begegnete uns das, was das deutsche Herz als Gemüt empfindet. Die mächtigen Bauernhöfe hinter ihren abschließenden grünen Hecken, meistens abseits der dörflichen Siedlung auf eigenem Grund und Boden gelegen, ihre an alte Überlieferungen gebundene Bauweise in schwarzweißem Fachwerk, oft sogar mit dem anheimelnden Strohdach, die freundlichen Rosensträucher über den schweren Holzbalken des Eingangs, die gepflegten Gärten, der altväterliche Hausrat, der sich zähe neben der Pariser Massenware behauptet, die blinkende Sauberkeit in Wohnung und Stall wie auf den Dorfstraßen, die letzten Spuren schöner alter Trachten – alles das gehört zum Wesen der Normandie und sagt über die Werte ihrer Bewohner in der Summe ebenso viel aus wie die Stimme der Geschichte, die in den Städten lauter und vernehmlicher klingt als auf dem Lande.
Gerade darum stirbt die Seele der Normandie, wenn wesentliche Züge aus ihrem Bilde getilgt werden, wie eine Statue zum Torso entwertet ist, wenn ihr Haupt und Glieder abgeschlagen sind. Auch wenn in einigen abgelegenen Wiesengehegen der eine oder andere alte Erbhof dem anglo-amerikanischen Vernichtungssadismus entgehen sollte, wenn hier und dort sogar ein ganzes Dorf verschont bliebe: was dann übrig wäre, könnte nur verkünden, was einst gewesen. Wenn überhaupt Menschen da wären, um auf der verbrannten Erde von neuem zu bauen, wenn Frankreich aus eigenem die Kraft aufbrächte, auch nur einen Teil der Städte und Dörfer Wiedererstehen zu lassen – trostlose Öde zöge dort ein, wo einst die Schönheit regierte, ein entwurzeltes Geschlecht säße auf einem Boden, aus dem ihm keine Kraft mehr zuwüchse. Dies Schicksal hängt heute drohend über der Normandie. Wer mit eigenen Augen die furchtbaren Wunden sah, die ihr die Horden der Invasion geschlagen haben, erblickte das Gespenst leibhaftig in den Brandschwaden von Rouen und Saint-Lô und auf den namenlosen, verlassenen Gehöften an den Straßen des Krieges.
Es gehörte aber ein mephistophelischer Mut dazu, wenn de Gaulle das Bedürfnis empfand, über die Folterqualen seines Vaterlandes, die auch sein Werk sind, eine Erklärung zum eigenen Ruhme und zum Lobe der Mordbrenner abzugeben, die dieses Meer von Blut und Brand über das normannische Land brachten. Monsieur de Gaulle darf mit Recht für sich in Anspruch nehmen, daß er etwas Einmaliges vollbracht hat. Wenn der Römer Coriolan in die Geschichte einging, weil er im Angesicht der höchsten Not des Vaterlandes an seine Brust schlug und reumütig umkehrte auf dem Wege des Verrates – de Gaulle wird auf entgegengesetzte Weise seinen Namen in Frankreich verewigen. Der Mann beginnt über seine bisherige Rolle hinauszuwachsen: er erschien bisher als ein Popanz – jetzt tritt er in Erscheinung als Inkarnation menschlicher Minderwertigkeit.