Um die Entscheidung
vb. Berlin, 6. Juni –
Seit heute Morgen um ein Uhr dröhnen an der französischen Küste die Geschütze, knattern die Maschinengewehre, zucken die Mündungsblitze der Schiffsartillerie durch den künstlichen Nebel, der den Umriß ihrer Leiber verbirgt. Die ersten Gefechte einer der größten Schlachten unserer Geschichte haben begonnen. Die Welt hält den Atem an. Sie fühlt, daß von diesen Stunden eine große geschichtliche Entscheidung ausgehen kann. Ob ein ganzer Kontinent, der älteste des Erdballs, unter die Herrschaft der rohesten Zerstörungskraft geraten soll oder ob er die Möglichkeit hat, sein eigenes Leben frei zu entfalten: Dies wird mit hoher Wahrscheinlichkeit in den nächsten Wochen an der Küste des Atlantischen Ozeans entschieden werden.
Jeder kennt aus seiner eigenen Umgebung in der letzten Zeit die Frage, die immer wieder gestellt wurde: „Werden sie kommen? Werden sie es wagen?“ Aber diese Frage hat nicht den Staatsbürger in Deutschland allein beschäftigt. Die Unsicherheit darüber, ob die Westmächte wirklich die Invasion beginnen würden, hat die gesamte internationale Diskussion der Fachleute während der letzten Monate beherrscht. Die deutsche Führung hat sich zu keinem Augenblick davon anstecken lassen. Sie hat alle politischen und militärischen und vor allem auch die psychologischen Gegebenheiten auf der Gegenseite gewürdigt, und sie ist seit langem zu dem Schluß gekommen, daß die Westmächte unter dem Zwange stünden, in Westeuropa zu landen. Die heutigen Ereignisse haben dies bestätigt und damit die Gesamtstrategie der deutschen Führung in den letzten anderthalb Jahren glänzend gerechtfertigt.
Die militärische Entwicklung während dieser Zeit stand im Zeichen deutscher Rückzüge. Diese Rückzüge wären zu vermeiden gewesen, wenn die deutsche Führung sich entschlossen hätte, ihre reichlichen operativen Reserven an den von Invasion bedrohten Stellen abzuziehen. Sie hat das nicht getan, und sie hat im Gegenteil aus der Ostfront Reserven herausgezogen, um sie an die Stelle zu werfen, von der sie wußte, daß hier eines Tages die Entscheidung fallen würde. Das hat manchen schmerzlichen Verzicht bedeutet – schmerzlich für die Truppe und schmerzlich für die Heimat. So ist Kiew, so ist Smolensk, so ist Odessa, so ist am Sonntag Rom verlorengegangen. Aber mit den Ereignissen dieses historischen 6. Juni gewinnen diese Preisgaben erst ihr eigentliches Gesicht.
Sie waren notwendig, damit da, wo in dem eisernen Würfelspiel die Entscheidung des Krieges fallen muß, die Deutschen die stärkste Zusammenballung ihrer Kraft besitzen, die möglich ist. Indem die Führung der Verlockung standhielt, die der Sorge um große Städte mit alten Namen, die aber auch der nie zu beseitigenden Ungewißheit über die Pläne der Westmächte entsprang, indem sie mit der äußersten Entschlossenheit an der einmal als richtig erkannten Gesamtkonzeption festhielt, hat sie die erste Voraussetzung für kommende Erfolge bereits geschaffen.
Es ist nicht wahrscheinlich, daß es bei der Landung an der nordwestfranzösischen Küste bleiben wird. Es ist eher anzunehmen, daß der Gegner nun nacheinander auch noch an anderen Stellen Westeuropas Truppen an Land setzen wird. Wo sich dann eines Tages der Schwerpunkt des Kampfes herausbilden wird, ob das an den Landestellen des 6. Juni, ob das weiter nördlich, ob das weiter südlich der Fall sein wird, das alles wird sich erst nach Tagen, vielleicht nach Wochen zeigen. Aber das eine ist bereits jetzt sicher: Die Kämpfe werden in mancher Beziehung ein anderes Gesicht tragen als die Rückzugsschlachten in der Ukraine und in Italien. Diesmal spielt sich die kriegerische Auseinandersetzung dort ab, wo die deutsche Führung seit langem die Entscheidung erwartete und wo sie darauf gerüstet ist. Sie ist im Osten wie in Italien ausgewichen, weil sie es so wollte und weil sie es für richtig hielt. Sie wird in Frankreich der Entscheidung nicht ausweichen, weil sie sie selber hier wünscht. Sie hat sich hier darauf vorbereitet, und sie wird sie auszutragen wissen.
Die Meldungen über die ersten Stunden des Kampfverlaufes, soweit sie uns gegenwärtig vorliegen, zeigen denn auch, wie entschlossen der Abwehrwille der deutschen Führung, wie überlegen ihre Maßnahmen und wie hart die ersten deutschen Gegenschläge sind. Die Kämpfe werden weitergehen, wochen-, vielleicht monatelang. Wir wissen alle, daß sie sehr schwer sein werden. Der Feind hat viel dazu getan, eine große Kriegsmacht aufzubauen, und wir zweifeln nicht an seiner Entschlossenheit, diese Kriegsstärke nun auch voll einzusetzen. Die ganze deutsche Nation erkennt den hohen Ernst der Stunden, die begonnen haben. Aber gerade darum, weil der Gegner sich nun endlich gezwungen sieht, auf dem seit langem sorgsam gemiedenen Schauplatz der Entscheidung mit seiner stärksten Kraft anzutreten, gerade darum glauben wir auch, daß von den Kämpfen dieser Wochen her das militärische Gesicht des Krieges sich wieder wandeln wird.
Die deutsche Defensivstrategie der letzten anderthalb Jahre war nichts Endgültiges. Sie war ein Mittel zum Zweck, nicht mehr. Der Plan unserer Gegner, durch eine ununterbrochene Offensive das Herz Europas zu lähmen und schließlich zu vernichten, ist seit heute Morgen in einen Abschnitt der Entwicklung getreten, der sich im Verlauf der Kämpfe zu seiner eigentlichen Krise wandeln mag. Wenn dem Gegner der Invasionsfeldzug gelingen sollte, dann wären für uns die Folgen unübersehbar. Sie würden wohl das Ende bedeuten. Wenn aber die deutschen Soldaten die Angreifer Zurückschlagen, dann sind die Folgen unübersehbar für die Gegenseite. Die Entscheidung über beides, das Schicksal unseres Vaterlandes, das Schicksal unseres Erdteils liegt jetzt in den Händen und den tapferen Herzen der Kämpfer am Atlantikwall. In dieser ungeheuren Tragweite der Ereignisse liegt die Rechtfertigung für das Aushalten, für den Widerstand und den Gegenstoß der deutschen Soldaten an der atlantischen Küste.
Wenn aber der Rauch der Geschütze sich endgültig von dem Strand der Felsenküste Frankreichs verzogen haben wird, dann wird sich auch zeigen, daß das Gesicht des Krieges ganz neue Züge erhalten hat. Militärisch gesehen aber wird dies bedeuten, daß die deutsche Führung dann freier geworden ist in ihren Entschlüssen, als sie es anderthalb Jahre lang sein konnte. Die Nation weiß, daß in der großen dramatischen Zuspitzung dieses Krieges auch die große Zuversicht liegt. Sie weiß, daß in dem Gewühl der schweren Schlachten dieses Sommers das blitzende Schwert des Gegenschlages zu finden ist.