‚Außenpolitik‘ der Yankee
v. mck. Lissabon, 12. April –
Nur alle vier Jahre, so meinte einmal der sarkastische irische Dichter Bernard Shaw, erfahren die Amerikaner bruchstückweise die Wahrheiten ihrer Politik, dann nämlich, wenn der Wahlkampf zum Waschen aller schmutzigen Wäsche verlockt, und wenn Münder sich auftun, die ansonsten mit Dollarnoten zugestopft sind. Amerika wählt in diesem Jahre, und bezeichnenderweise werden augenblicklich die amerikanischen Politiker von Anwandlungen des Mutes zur Wahrheit heimgesucht, sogar die Schaumschläger vom Schlage Wendell Willkies. Er hat sich kürzlich in Milwaukee während einer Wahlversammlung hingestellt und hat erklärt, Amerika habe sowohl innen- als auch außenpolitisch völlig den Faden verloren, es sei ganz einfach im internationalen Schlamm ertrunken.
Liest man die vielen Kritiken, die augenblicklich in der US-Presse zum Thema Außenpolitik geschrieben werden, verfolgt man die sichtliche Aufregung im State Department, die soeben in der kläglichen Rede Hulls deutlichen Ausdruck fand, und bringt man diese Erscheinungen in Zusammenhang mit dem Sturm der öffentlichen Meinung gegen den bisher beschrittenen außenpolitischen Weg der USA, so kann man nicht umhin, in diesem Falle Mister Willkie teilweise recht zu geben. Von einem Faden, einer Linie, einer Richtung, einer Konzeption, einem konstruktiven Plan der amerikanischen Außenpolitik kann überhaupt nicht die Rede sein, es sei denn, man entschlösse sich dazu, die systematisierte Anarchie als einziges Leitmotiv der US-Diplomatie anzusprechen – so widerspruchsvoll, irrig, dreist und dumm sind die Gedanken, die jenseits des Atlantiks zur Außenpolitik vorgebracht werden.
Würde man Roosevelt persönlich nach dem Faden seiner Außenpolitik befragen, so würde er ebenso heuchelnd wie undiplomatisch antworten: „Die vier Freiheiten der Atlantik-Charta.“ Er würde es tun, obwohl die Welt weiß, daß er diese Prinzipien immer dann verleugnet, wenn sie praktisch zur Anwendung kommen sollen, daß er sie nur dann im Munde führt, wenn er sich von ihnen eine agitatorische Wirkung verspricht. Der offizielle außenpolitische Faden ist nur zum Spinnen, aber nicht zum Wirken da.
Was bestimmt nun wirklich die amerikanische Außenpolitik? „In Washington spricht man heute mehr von den vier Elementen Gold, Öl, Luft und Wasser als von den vier Freiheiten der Atlantik-Charta,“ berichtet der Londoner Daily Express und gibt damit sehr deutlich zu verstehen, daß die idealen Prinzipien nur vorgeschoben wurden, um in ihrem Schatten realen Objekten nachzustreben. Entwickelt die amerikanische Außenpolitik jenseits der Diskrepanz zwischen ihren angeblichen und ihren tatsächlichen Zielen wenigstens bei der Verwirklichung der letzteren Systematik, Aufbau, Zielsetzung?
Auch diese Frage verneinen die ernsthaften außenpolitischen Beobachter Amerikas. Der mächtige,Life-Verleger, Henry Luce, hat treffend dazu erklärt, das State Department stelle „wahre Rekorde an Zweideutigkeit, Unbeständigkeit und Farblosigkeit“ auf. Es sei immer unsicher und richtungslos, mehr opportunistisch als politisch. Und gerade diese unverständliche außenpolitische Haltung der USA stelle die Kriegsursache dar, weil die amerikanische Diplomatie durch sie allgemeine Unsicherheit in die Welt hineingetragen habe. Luce sagte dies vor einem Jahre, als Sumner Welles noch im State Department saß und Stettinius noch keinen außenpolitischen Einfluß besaß. Inzwischen ging Hull nach Moskau und Roosevelt nach Teheran und man schwur, nunmehr einen außenpolitischen Faden gefunden zu haben. Doch mitnichten. Jetzt gerade, nachdem die politische Maschinerie von Moskau und Teheran in allen Probefällen ihre Arbeitsunfähigkeit bewiesen hat und in der ureigensten Domäne der US-Macht, in Südamerika, sich Erschütterungen vollziehen, die den einzigen, halbwegs durchkonstruierten Teil der US-Außenpolitik, den Panamerikanismus, zu vernichten drohen, begreifen immer mehr Amerikaner, daß ihr Land außenpolitisch kurslos herumschwimmt und fragen sich nach den Gründen.
„Warum haben wir keine fundierte und klare Außenpolitik? Etwa nur, weil das Übersetzungsverhältnis zwischen der politischen Wirklichkeit der Welt und den Prinzipien der Atlantik-Charta nicht herzustellen ist, oder weil bürokratischer Legalismus, verstaubter Konservatismus und opportunistischer Zynismus im State Department vorherrschen?“ forschte kürzlich die New York Herald Tribune und blieb bei der mit der Frage selbst gegebenen halben Antwort, denn die ganze kann Amerika nicht geben, ohne den eigenen Mythos zu verleugnen und den Traum vom „amerikanischen Jahrhundert“ endgültig zu torpedieren. Amerika kann bisher aus vielen Gründen keine echte, konstruktive Außenpolitik entwickeln.
Zunächst sind es geographische Gründe: Der amerikanische Westen ist pazifisch, der amerikanische Osten atlantisch orientiert, die Kernstaaten der USA denken dagegen völlig egozentrisch und daher weltpolitisch beziehungslos und isolationistisch. Hinzu kommt als weiteres politisches Spaltungsmoment der verfassungsmäßig verankerte Föderalismus, die vielen Bundesstaaten, in welchen sich je nach Lage eine bestimmte Auffassung der Außenpolitik entwickelt, und weiter die Tatsache, daß es keine amerikanische Nation gibt, sondern nur eine Ansammlung von vielen Millionen Einwanderern aus aller Welt. An einem Beispiel sei dies gezeigt: In den Zeitungen des Staates Kalifornien steht die Berichterstattung über den pazifischen Kriegsschauplatz im Vordergrund. Die Leitartikel befassen sich fast ausschließlich nur mit dem politischen Kampf um jenes Meer, weil die Menschen dort nicht an den Händeln in Europa interessiert sind wie anderseits die Bewohner des Staates Neuyork, in deren Blättern selbstverständlich die pazifischen Ereignisse an zweiter Stelle rangieren. Die Variation dieser allgemein gültigen Feststellung ergibt sich dann, wenn im, Chinesenviertel von Neuyork asiatische Probleme besprochen werden und im Polenviertel von San Franzisko der angelsächsische Verrat an Polen diskutiert wird.
Unter solchen Umständen kann sich natürlich nicht eine nationale Außenpolitik mit festumrissenen Zielen herauskristallisieren, zumal der parasitäre Vorstoß des amerikanischen Kapitalismus – die Anleihepolitik der jüdischen Großbanken, die Festsetzungsbestrebungen der Öl- und Luftfahrtkonzerne oder der Marktraub des amerikanischen Außenhandels – überall in der Welt „Interessenzonen“ schafft, deren ständige Kontrolle jede echte Diplomatie, jede aufbauende Konzeption unmöglich macht. Empfängt Mister Hull um 11 Uhr einen der Bankiers, welche Finnlands Zelluloseindustrie finanziert haben, und läßt sich Von ihm größere Zurückhaltung in der Sowjetpolitik anraten, da erscheint schon um 12 Uhr irgendeiner der Hintermänner der Pacht- und Leihgeschäfte und verlangt hundertprozentige Unterstützung der Sowjets und die Erfüllung aller ihrer Wünsche. Spricht der US-Außenminister mit den Vertretern des Clipper-Imperialismus oder mit den Sachwaltern von US-Kapitalinteressen in Südamerika, wird er auf geradezu fanatisch antienglische Gedankengänge stoßen, während Morgan, Lehmann und die anderen UNRRA- und Bankjuden, deren Interessen mit den englischen verflochten sind, umgekehrter Ansicht sein werden. Diejenigen, die mit dem chinesischen Bankier Soong Tschungking-China finanziell aufbliesen, werden glühende Anhänger der Verschiebung des amerikanischen außenpolitischen Schwergewichts nach dem Pazifik, die Geschäftemacher von Algier aber, die seit Monaten von den de Gaulles, Girauds und Badoglios irgendwelche „Nachkriegskonzessionen“ einhandeln und im Übrigen mit Rußland-geschäften „in der Dekade des sowjetischen Aufbaues“ spekulieren, gehören selbstverständlich zu den fanatischen Anhängern des „Europe first.“
Diese auseinanderstrebenden Meinungen beeinflussen alle die amerikanische Außenpolitik. Ihr bleibt darum nichts anderes übrig, als ganz allgemein überall der politischen Anarchie Vorschub zu leisten, um ebenso allgemein dem amerikanischen Wirtschaftsimperialismus das Weltfeld aufzubereiten. Dabei wirkt sie aber in erster Linie als Wegbereiterin des Bolschewismus. Aus der Ufer- und Hemmungslosigkeit ihres Strebens wächst aber nichts Reifes. „Die amerikanische Außenpolitik flattert wie eine zerfetzte Zielscheibe des kritischen Spottes im Winde der Ereignisse hin und her,“ sagt die Neuyorker Intellektuellen-Zeitschrift Nation. Sie hat also nicht, wie Willkie meint, den Faden verloren, sondern hat einen solchen nie besessen, weil sie ihn nicht besitzen kann.
Wir brauchen bei dieser Betrachtung nicht einmal Roosevelts verhängnisvollen persönlichen Einfluß auf die amerikanische Außenpolitik genauer zu untersuchen, weil wir wissen, daß sie stets im Höchstfälle nur eine Serie von Improvisationen des gerade im Amt befindlichen Präsidenten gewesen ist. Daß allerdings der gegenwärtige Lenker des amerikanischen Staates dem Kriege nachlief und das von Hause aus außenpolitisch konzeptionslose Amerika in einen Kampf trieb, beidem nur neue Gedanken und aufbauende Auffassungen entscheiden werden, ist, jenseits der Ursachen beurteilt, die schlimmste Hypothek, die auf der amerikanischen Außenpolitik lastet. Und nicht nur auf ihr, sondern auf Amerikas Leben überhaupt.
Sumner Welles, einst einer der entscheidenden Männer der US-Außenpolitik, die noch heute in mancher Beziehung den Stempel seines Wirkens trägt, bringt augenblicklich den Mut auf, sie ebenso sachlich wie hemmungslos zu kritisieren und sich nachträglich ein politisches Armutszeugnis auszustellen. In seinem letzten Aufsatz zu diesem Thema erklärt er, die ganze interalliierte Zusammenarbeit stünde nur auf dem Papier, in der Praxis dominiere aber die Sowjetunion vollständig innerhalb der Koalition, weil sie ihre Politik „mit Blut“ schreibe. Dies ist in amerikanischem Munde ein besonders interessantes Argument, das wiederum die Außenpolitik Roosevelts in richtiger Beleuchtung zeigt und außerdem ihre Ohnmacht erklärt. Kingsbury-Smith, der Leibjournalist Cordell Hulls, interpretiert die amerikanische Außenpolitik als ein „System von Nützlichkeitserwägungen.“ Ihr Sinn sei, „unter möglichst geringen Kosten an amerikanischen Leben den Krieg zu gewinnen.“ Sumner Welles führt gerade auf diese Blutsparsamkeit die Hörigkeit der US-Diplomatie gegenüber der unter Opferung von Hekatomben ihrer Menschen stur auf das gesteckte Ziel marschierenden Sowjetunion zurück. Und er bestätigt damit die auch außenpolitisch gültige uralte Regel, wonach ohne Einsatz des Lebens das Leben nicht gewonnen werden kann.
Je deutlicher die hoffnungslose Verfahrenheit der amerikanischen Außenpolitik wird, umso klarer tritt die Zielsetzung des Bolschewismus in Erscheinung, mit ihr aber zugleich die Sinngebung der geistigen und politischen Abwehr derjenigen Völker, die der zum außenpolitischen Leitmotiv der Alliierten erhobenen Anarchie die neue Ordnung entgegenzuhalten haben.