Wiener Kurier (October 7, 1946)
Sumner Welles über Nürnberg:
Freispruch des Generalstabes ist nachteilig für den Weltfrieden
Washington (AP.) - Der frühere Staatssekretär im amerikanischen Außenministerium Sumner Welles erklärte gestern, der Freispruch des deutschen Generalstabes durch den Nürnberger Gerichtshof werde sich in den nächsten Jahren nachteilig auf den Weltfrieden auswirken.
In seiner wöchentlichen Rundfunksendung gab Welles der Überzeugung Ausdruck, daß die deutschen Offiziere, denen die militärischen Doktrinen aus Deutschlands Vergangenheit eingeimpft wurden, weiterhin Wege zu einem neuen Krieg planen und vorbereiten würden. Den Freispruch Papens nannte Welles „den befremdendsten Zug“ an dem Urteilsspruch.
Bedrohung für das deutsche Volk
Berlin (UP.) - Einer der leitenden Funktionäre der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Walter Ulbricht, wandte sich in einer Rede gegen das zu mildes Nürnberger Urteil und forderte die Todesstrafe für alle Industriellen, Militaristen und Finanzleute, die Hitler vor und nach der Machtübernahme unterstützt hatten. „Die Freilassung Papens, Schachts und Fritzsches“, erklärte Ulbricht, „stellt eine direkte Bedrohung des deutschen Volkes dar, da niemand weiß, ob diese Leute nicht einen neuen Putsch vorbereiten.'“
Julius Mayer, der Chef der jüdischen Gemeinde in Berlin, protestierte ebenfalls gegen den Nürnberger Urteilsspruch, da er „die Faschisten zu neuen Verbrechen ermutige.“
Papen noch im Nürnberger Gefängnis
Nürnberg (WK.) - Obwohl Papen offiziell bereits als „frei“ gilt, befindet er sich als einziger Freigesprochener nach immer als „Gast“ im Nürnberger Gefängnis. Seine Zelle ist nicht mehr verschlossen, es hat aber reicht den Anschein, als ob Papen bald das Gefängnis verlassen würde.
Gattin Görings wird angeklagt
Nach einer Entscheidung der bayrischen Entnazifizierungskommission wird gegen die Gattin des Hauptkriegsverbrechers Nr. 1, Frau Emmy Göring, die Anklage erhoben, daß sie aus ihrer Zugehörigkeit zur Partei „übermäßige Vorteile“ gezogen habe. Frau Göring ward sich vor einem deutschen Entnazifizierungsgericht zu verantworten haben.
Raeder beantragt Todesstrafe für sich
Der ehemalige Oberkommandierende der deutschen Marine, Erich Raeder, der durch den internationalen Militärgerichtshof zu lebenslänglichem Kerker verurteilt wurde, hat an den Alliierten Kontrollrat ein Gesuch gerichtet, das Urteil in ein Todesurteil umzuwandeln.
Die letzten Gnadengesuche
Im Verlaufe des Samstags haben die Angeklagten Keitel, Sauckel und von Neurath Gnadengesuche eingereicht, denen sich auch der Verteidiger Ribbentrops angeschlossen hat. Es haben nunmehr alle Verurteilten mit Ausnahme Ernst Kaltenbrunners, Speers und Schirachs um Milderung ihres Strafausmaßes ersucht.