Völkischer Beobachter (November 29, 1944)
Blut für England –
Die Kanada-Krise geht weiter
Generalseifersüchteleien im Hintergrund
Von unserem Berichterstatter in Portugal
hb. Lissabon, 28. November –
Kanada ist das Land im britischen Empire, das von den materiellen und moralischen Belastungen, die ihm der Krieg für England auferlegt, bisher wohl am schwersten getroffen wurde.
Die Krise, die Kanada heute durchmacht, begann Mitte September mit der Rückkehr des schwer verwundeten Majors Connie Smythe. Smythe, eine im kanadischen Sport führende Persönlichkeit, gab im Lazarett eine Erklärung ab, die eine schwere Anklage gegen England und die kanadische Regierung darstellte. Er beschuldigte insbesondere Montgomery, die kanadischen Truppen immer an den schwierigsten Frontabschnitten einzusetzen, wodurch ihre Verluste im Vergleich zu den englischen Einheiten unverhältnismäßig hoch wären. Weiter klagte Smythe den ehemaligen kanadischen Verteidigungsminister Oberst Ralston an, Soldaten an die europäische Front zu schicken, die weder für den Kampf mit dem deutschen Gegner genügend ausgebildet, noch mit entsprechenden Waffen ausgerüstet seien.
Diese Erklärung des zerschossenen Offiziers entfachte in ganz Kanada einen Entrüstungssturm. Vergeblich versuchte der Verteidigungsminister Ralston, den Major in einem Disziplinarverfahren zur Rücknahme seiner Anklage zu veranlassen. Smythe blieb bei seinen Behauptungen, und die von ihm vorgebrachten Beweise machten aus dem Verfahren ein politisches Instrument erster Ordnung.
Oberst Ralston ist, wie berichtet, inzwischen als Verteidigungsminister zurückgetreten, weil er der Front den angeforderten Ersatz nicht mehr liefern konnte und Mackenzie King sich weigerte, das System zu ändern. Sein Nachfolger, der frühere Kommandeur der kanadischen Truppen in Europa General MacNaughton, ist im Grunde ebenfalls der Meinung, dass das Prinzip der Freiwilligkeit für den Frontdienst in Europa nicht aufrecht erhalten werden kann. Der eigentliche Grund für seinen Eintritt in das Kabinett war persönlicher Natun MacNaughton hat eine lange Rechnung mit dem britischen Feldmarschall Montgomery zu begleichen, mit dem er persönlich aufs heftigste verfeindet ist. Als Kommandeur der 8. englischen Armee verbot Montgomery zu kommen, um in dieser Eigenschaft die kanadischen Truppen in Europa besuchen und bei dieser Gelegenheit mit Montgomery abrechnen zu können.
Inzwischen waren die Ersatzanforderungen der kanadischen Armee nach Ihren schweren Verlusten bei den Kämpfen an der Scheldemündung und in Brabant so dringend geworden, dass Mackenzie King unter Preisgabe seiner bisherigen Einstellung seine Einwilligung zur Entsendung von 16.000 Mann ausgehobener Soldaten nach Europa gab, weil Freiwillige nicht mehr vorhanden waren. Darüber hat die kanadische Krise ihre gegenwärtige Schärfe erhalten. Die Opposition wirft der Regierung insbesondere vor, dass die vorgesehenen Truppen völlig unzureichend für den europäischen Krieg ausgebildet seien. MacNaughton mußte das wenigstens teilweise bestätigen.
In der erbitterten Diskussion wurde auch nach einer anderen Angelegenheit ins Rampenlicht gerückt, die Mackenzie King aus begreiflichen Gründen im Dunkeln ließ. Es handelt sich um die von ihm Churchill und Roosevelt gegenüber eingegangener Verpflichtung einer aktiven kanadischen Beteiligung am ostasiatischen Krieg nach Beendigung der Kämpfe in Europa. Da die große Mehrheit diesen Krieg als rein amerikanische Angelegenheit ansieht, wollte Mackenzie King die ganze Sache aus dem kommenden Wahlkampf heraushalten. Nach einer Information der New York Times aus Ottawa ist aber infolge einiger Indiskretionen bekanntgeworden, dass der frühere Verteidigungsminister Ralston bereits Vorbereitungen zum Einsatz kanadischer Luftstreitkräfte auf Grund der Quebecer Beschlüsse im ostasiatischen Krieg getroffen hat.
Die Entscheidung für die Entwicklung der Krise liegt jetzt bei den Mitgliedern der liberalen Mehrheit des Ottawaer Bundesparlaments, die in der Provinz Quebec gewählt werden. Die Mehrheit dieser Provinz hat sich bei den letzten Wahlen für das Provinzparlament energisch gegen die Verschickung eingezogener Rekruten nach Übersee ausgesprochen. Wenn die Quebecer Gruppe der Liberalen Mackenzie King in dieser Frage die Gefolgschaft versagt, ist mit der sofortigen Auflösung des Ottawaer Bundesparlaments und mit vorzeitigen Neuwahlen zu rechnen.
Stockholm, 28. November –
Der kanadische Ministerpräsident Mackenzie King erklärte zur Frage der Zwangsrekrutierung im kanadischen Parlament: Kanada stehe vor der Möglichkeit einer Anarchie, wenn sich das Parlament nicht hinter die Regierung stelle. Er fügte hinzu, dass er mit einer nur geringen Mehrheit nicht Weiterarbeiten werde.