Wiener Kurier (February 4, 1946)
6. Juni 1944 frühmorgens…
Wieso die Invasion gelang – Die Rolle der Wissenschaft und Technik bei der Landung in Frankreich
Von Allan Marshall
Die überlegene wissenschaftliche und technische Leistungsfähigkeit der Alliierten und die Gründlichkeit ihrer Vorbereitungen sicherten den Erfolg der Invasion. Ihr Gelingen besiegelte Deutschlands Niederlage. Generalleutnant Kurt Dittmar, der Rundfunksprecher des OKW, sagte: „Das Dritte Reich hatte den Krieg militärisch verloren, als es sich außerstande zeigte, die Invasion der Normandie aufzuhalten.“
Im Frühling 1940 herrschte über Europa fast vollkommen heiteres Wetter. Der Himmel war blau und wolkenlos; es gab wenig Regen, kaum genug für die Ernte, und der Boden Frankreichs, über den die Panzer der Nazi dahinrollten, war hart und trocken.
Anders war das Wetter im Frühling und Frühsommer 1944. Starke Winde peitschten die Wasser des Kanals, und die Wellen hatten weiße Schaumkronen.
Im Juni 1944 war das Wetter über dem Kanal das schlechteste seit Menschengedenken. Als General Eisenhower, der alliierte Oberkommandierende, beschloß, die Invasion Frankreichs am 6. Juni zu beginnen, traf er eine der schwerwiegendsten‘ Entscheidungen der Geschichte. Denn wenn den Alliierten die Invasion nicht gelungen wäre, hätten sie vielleicht alles verloren. Mit der Erzwingung des Zugangs zum Kontinent aber würden sie alles gewinnen, denn dann würde ihre Überlegenheit voll zur Geltung kommen können.
General Eisenhower wußte, daß theoretisch die Chancen für ein gutes Invasionsweiter auf 1 zu 50 standen. Eine ideale Wetterlage würde es unter keinen Umständen geben; und auch bei einer praktisch brauchbaren Wetterlage würde man mit zahlreichen ungünstigen Faktoren zu rechnen haben.
Wenn zum Beispiel die Wolkenlage für den Absprung von Luftlandetruppen günstig sein würde, der einige Stunden vor der Landung von der See her zu erfolgen hatte, dann brauchte sie nicht notwendigerweise den schweren Bombern eine gleich günstige Chance bieten, die kurz vorher die Verteidigungsstellungen zu pulverisieren hatten. Anderseits mußten die für die schweren Bomber günstigsten Wetterbedingungen nicht gleich günstig sein für die mittelschweren und leichten Kampfflugzeuge, deren Aufgabe es war, die deutschen Bunker und Zementunterstände zu zerstören. Und selbst wenn für alle diese drei kombinierten Operationen die idealsten Bedingungen bestünden, wäre vielleicht der Mond den Fallschirmjägern, die am Ufer zu operiezen hätten, nicht günstig,
Die Flut bot ein schwieriges Problem, denn im Kanal steigt und fällt der Wasserspiegel um 6 Meter bei jedem Flutwechsel,
Von allem anderen abgesehen, schränkten Ebbe und Flut sowie der Mondwechsel den möglichen Zeitpunkt der Landungen auf eine bestimmte Reihe von aufeinanderfolgenden Tagen ein.
Als der erste provisorisch als „D-Day“ in Aussicht genommene Tag, der 5. Juni, herannahte, fanden täglich immer mehr Konferenzen statt. Gleichzeitig zeigte das Wetter eine Tendenz zur Verschlechterung. Aber bis in die letzten Maitage hinein machten sich keinerlei Anzeichen dafür bemerkbar, daß am 5. Juni starke Bewölkung und schwere Stürme herrschen würden.
Am Morgen des 1. Juni, einem Donnerstag, begann dann die erste der abschließenden Besprechungen zwischen dem Oberkommandierenden und seinen Kommandeuren und ihren Stabschefs, Bei dieser Konferenz wurde zum erstenmal darauf hingewiesen, daß gewisse Anzeichen darauf hindeuteten, daß für Sonntag nacht und Montag morgen schlechtes Wetter zu erwarten sei, Die letzten Wetterberichte zeigten, daß auf dem Kanal Bedingungen herrschen würden, die nicht einmal die bereits festgelegten Mindesterfordernisse erfüllten.
Am Samstag, dem 3. Juni, war die Wettervorhersage noch schlechter. Das Barometer fiel in Irland; vom Mittelatlantik und von Amerika lauteten die Berichte ungünstig. Es schien nun ziemlich sicher, daß am Montag und den folgenden Tagen über dem Kanal frische, wenn nicht sogar starke Winde wehen würden.
Die Beratungen dauerten den ganzen Samstag über an, und jeder neu einlaufende Wetterbericht war schlechter als der vorhergehende. Am Abend dieses Tages waren sich die Kommandeure endgültig darüber klar, daß das Wetter während der Nacht von Sonntag auf Montag und am Montag selbst nicht einmal den Mindesterfordernissen entsprechen würde. Der Wind würde zu stark sein, um Truppenlandungen vorzunehmen; Luftlandeoperationen und Angriffsflüge von Großkampfflugzeugen könnten nicht durchgeführt werden, denn der Himmel würde in dem dafür vorgesehenen Zeitraum von einer niedrigen Wolkendecke überzogen. sein. Nach einer in düsterer Stimmung verlaufenen Beratung spät am Samstag und einer anderen am Sonntag früh um 4,30 Uhr entschied der Oberkommandierende, daß das größte Unternehmen der Geschichte vertagt werden müßte. Man beschloß, täglich erneut zu prüfen, ob das Unternehmen am jeweils folgenden Tag durchgeführt werden könnte.
Wie zum Hohn war am Sonntag vor Sonnenaufgang der Wind still, und ein fast wolkenloser Himmel wölbte sich über dem Kanal. Um so härter war es für General Eisenhower, diese Entscheidung zu treffen, und er traf sie ausschließlich auf Grund der theoretischen Voraussagen seiner Meteorologen. Später am Tage zeigte es sich freilich, wie recht er hatte, sich auf seine Ratgeber zu verlassen: der Wind nahm zu, und bei Einbruch der Dunkelheit hatte er über dem Kanal Sturmstärke angenommen, so daß der Entschluß, an diesem Tage das Unternehmen durchzuführen, zu einer Katastrophe geführt haben würde.
Die meteorologischen Konferenzen, die am Sonntag, dem 4, Juni, fortgeführt wurden, ergaben aber, daß nach einer unruhigen Nacht und einem 'stürmischen Montag in der Nacht vom Montag zum Dienstagmorgen eine Besserung eintreten würde. Vorläufig war die gesamte Wetterlage am Atlantischen Ozean stark gestört und versprach mehr einen Wintertag als einen Frühsommertag,
Spät am Sonntagabend vernahmen der Oberkommandierende und sein Stab von ihren Sachverständigen die Wettervorhersage für Montag-Dienstag: „Eine Schönwetterperlode wird sich am Montag über dem Kanal ausbreiten und mindestens bis Sonnenaufgang am Dienstag, dem 6. Juni, anhalten. Der Wind an der Küste der Normandie wird auf Stärke drei oder vier fallen, und die Wolkendecke wird bis zur Höhe von etwa 1000 Meter brechen. Nach diesem Intervall werden sich am Dienstagnachmittag wieder mehr oder weniger starke Wolkenbildungen zeigen; dann wird das Wetter nach einem weiteren kurzen Intervall von klarem Wetter in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch weiterhin unbeständig sein, mit gelegentlichen Perioden von Bewölkung und starkem Wind, bis Freitag. Darüber hinaus können keine zuverlässigen Voraussagen gemacht werden.“
Die Stabsoffiziere verlangten mehr Einzelheiten, bevor sie die Wetterexperten entließen; dann berieten sie die Lage. Und dann – es ging auf Mitternacht zu – machte General Eisenhower eine dramatische Ankündigung: „Ich habe mich provisorisch entschlossen, die Invasion. am Dienstagmorgen stattfinden zu lassen.
Wenige Menschen haben, jemals eine so schwierige Entscheidung zu treffen gehabt. Vielleicht hat nie zuvor jemand eine solche Entscheidung unter so entmutigenden Bedingungen getroffen, denn starker Regen fiel von einem völlig bewölkten Himmel, und die Wolken hingen tief herab. Der Wind stand auf halber Sturmstärke.
Einige Stunden später, um vier Uhr früh am Montagmorgen, trat der Generalstab wieder zusammen, um die Entscheidung zu treffen, die nun endgültig und unwiderruflich sein würde. Denn, wie jeder wußte, wenn einmal die gewaltige Maschine der Invasion tatsächlich in Gang gesetzt war, konnte sie nicht mehr aufgehalten werden, selbst wenn das Wetter sich am Montag als schlecht erweisen würde.
Die Meteorologen bestätigten ihre Voraussage vom vorigen Abend: gutes Wetter würde Montag nachts über herrschen und wahrscheinlich bis Dienstagmittag andauern.
Befehle gingen nun an alle Kommandostellen der gewaltigen alliierten Streitkräfte: die Invasion Frankreichs würde am Morgen des folgenden Tages, nämlich am Dienstag, dem 6. Juni, beginnen.
Die Ereignisse zeigten, daß die Meteorologen recht hatten. In den kritischen Stunden, die der Landung der auf Schiffen transportierten Truppen vorangingen, gab es lange Zwischenräume, in denen der Himmel zeitweilig klar war, so daß es den mittelschweren. und leichten Kampfflugzeugen möglich war, die feindlichen Anlagen haargenau zu treffen.
Mit ihrer genauen Voraussage einer so kurzen! Periode günstigen Wetters, die das sonst unbeständige Wetter unterbrechen würde, übertrumpften die alliierten Meteorologen ihre deutschen Kollegen. Die Alliierten wußten, daß die deutschen Truppenchefs ihre Meteorologen angewiesen hatten, ihnen zu melden, wann das Wetter für eine Invasion günstig oder ungünstig sein würde. Einen oder zwei Tage vor dem 5. Juni meldeten die Wettersachverständigen der Nazi ihren, Vorgesetzten, daß andauerndes Sturmwetter eine Invasion bis zum 6. Juni einschließlich unmöglich machen würde.
An den Landeplätzen sahen sich die alliierten Streitkräfte den gewaltigsten Transport- und Nachschubaufgaben gegenüber, die jemals menschlicher Organisationskunst gestellt wurden. Ihre Lösung war nur möglich, weil die besonderen Erfahrungen beider Nationen auf verschiedenen Gebieten einander ergänzten.
Innerhalb von vier Wochen nach dem 6. Juni wurden mehr als eine Million alliierter Trappen in Frankreich gelandet. Mit ihnen kamen 183.500 Kraftwagen und 650.000 Tonnen Material, einschließlich 9000 Wagenladungen von Munition, das heißt über 1000 Pfund auf den Mann. Sie brachten außerdem Nahrungsmittel für die Zivilbevölkerung in den befreiten Gebieten, gleich zu Beginn 500 Tonnen täglicher Rationen allein für die Bevölkerung von Paris. Und all dies wurde hinübergeschafft, obwohl zwischen dem 13. und 16. Juni die schwersten Stürme tobten, die seit 29 Jahren den Kanal heimgesucht hätten.
Die Durchführung dieser Aufgaben erfolgte auf verschiedenen Wegen. Schiffe wurden eingesetzt, die so gebaut waren, daß sie auch bei Hochflut an der Küste der Normandie landen und dort zum Ausladen bleiben konnten, auch wenn inzwischen die Ebbe eingesetzt hatte und der Wasserspiegel sich um 6 Meter senkte, Für schwere Schiffe wurde ein Pendelverkehr von Leichtern eingerichtet, der 2000 bis 2000 Fahrzeuge und etwa 15.000 Mann in Atem hielt.
Etwas über drei Monate nach dem 6. Juni konnte man 100 Frachtdampfer zur gleichen Zeit vor der normannischen Küste zum Ausladen liegen sehen. Mit Hilfe der Leichter und der „Enten“ – amphibischen Transportfahrzeugen, die ans Ufer schwimmen und dann auf ihren eigenen Rädern den Strand hinauffahren können – war es möglich, die Frachtschiffe schneller auszuladen, als dies in einem modernen Hafen in Friedenszeiten möglich war. Gleichzeitig fuhren Landungsschiffe – etwa 50 oder 60 zu gleicher Zeit – ohne Hilfe an den Strand, senkten ihre Rampen und setzten ihre Ladung ab, bevor die Flut hereinbrach.