vb. Berlin, 23. Juli –
Als die Briten Caen noch nicht in Besitz hatten, bezeichneten sie diese Stadt als die Schlüsselstellung für die Kämpfe in der Normandie. Folgerichtigerweise hätte man daraus schließen müssen, daß mit der Einnahme von Caen durch die Engländer die gesamte Front der Deutschen aufgerollt würde. Wenn man nur den Angaben der britischen Führung, wie sie zu Anfang der Woche in die Öffentlichkeit drangen, hätte folgen wollen, so wäre in der Tat das große Ziel auch erreicht gewesen. Wir hörten von dem endgültig erreichten Durchbruch, Wir erfuhren, daß die britischen Panzerverbände nun endgültig in freies Feld vorgestoßen seien, wir wurden schließlich darüber belehrt, daß die Schlacht in der Normandie nun ein ganz neues Gesicht, nämlich das des Bewegungskrieges, annehmen werde.
Inzwischen sind sechs Tage vergangen, inzwischen stehen die Briten 7 Kilometer südlich von Caen. Man kann den schneidenden Gegensatz zwischen dem Ziel des Generals Montgomery und dem erreichten Erfolg kaum sichtbarer machen als mit dieser nüchternen Angabe. Aus ihr werden alle entscheidenden Merkmale der letzten Kampfwoche an der Invasionsfront deutlich: der operative Durchbruch ist nicht gelungen, dass furchtbar mühsame Abringen des Gegners um jede Meile, um jede Hecke und jeden Bachlauf geht weiter, vom Bewegungskrieg kann überhaupt keine Rede sein, alles bleibt wie bei den flandrischen Offensiven der Briten 1917. Sie haben jetzt starke und schnelle Panzergeschwader, aber sie kleben damit nicht weniger am Boden wie die Infanterie des Feldmarschalls Douglas Haig vor 27 Jahren.
Manchmal weiß man nicht recht, ob man den Kämpfen im Brückenkopf überhaupt den Namen einer Schlacht geben soll. Natürlich verdienen sie diesen Namen nach der Ausdehnung des Geländes ebenso wie nach der Zahl der eingesetzten Streitkräfte. Was die Briten und Amerikaner jetzt im Landekopf stehen haben, hat die Zahl von 30 Divisionen längst überschritten. Dazu haben sie die Unterstützung durch außerordentlich starke, auch der Zahl nach übermächtigen Luftflotten. An der Erbitterung, mit der auf beiden Seiten gekämpft wird ist ebenfalls kein Zweifel, und dennoch zögert man hin und wieder, den vollen Begriff der Schlacht auf diese Kämpfe anzuwenden, weil ein wesentliches Merkmal fehlt: die großzügige, leitende und beherrschende operative Idee des Angreifers. Einmal sehen wir ihn dort einige Panzerdivisionen hinwerfen und einige Bauernhäuser erobern, dann wieder an anderer Stelle, dann wieder sehen wir ihn festliegen, dann versucht er es wieder mit den Bombenteppichen, dann werden von seinen Luftstreitkräften starke Verbände zur Zerstörung von Wohnhäusern weit hinter den Fronten abgezweigt – das Ganze macht den Eindruck der strategischen Unsicherheit und der Unfreiheit des operativen Denkens.
Natürlich ist es nicht erlaubt anzunehmen, der General Montgomery und sein Stab wüssten nicht, worauf es ankomme im Brückenkopf. Natürlich wissen sie, daß sie vor allem aus der Enge herauskommen müssen, die ihre Heeresgruppe fast erwürgt. Es ist auch selbstverständlich, daß sie sich seit den ersten Invasionstagen bestimmte Vorstellungen darüber machen, wie dieses Ziel zu erreichen wäre. Nur wenn es an die Ausführung dieser Pläne geht, dann verliert sich alles ins Kleinliche und Halbe. Auf die Karte schöne Pfeile einzuzeichnen, kann eben jeder Dilettant, erst bei der Umsetzung in die Wirklichkeit zeigt sich der Feldherr. Im Kampf mit den vielfachen „Friktionen,“ mit Nachschubschwierigkeiten, mit unerwartet hartnäckigem Widerstand, mit dem Ausfall von Vorhuten und von Nachrichtenmitteln – erst in dieser ständigen Auseinandersetzung mit den Reibungen des Alltags, die operative Idee zu entwickeln und fruchtbar zu machen, zeigt sich echtes militärisches Führertum.
Da die Deutschen es nicht lieben, ihre Gegner zu unterschätzen, sind sie auch leicht bereit, die Hindernisse anzuerkennen, die sich bei dem General Montgomery der Entfaltung der operativen Idee in der Normandie entgegenstellten. Das Gelände ist eng, es ist auch durchschnitten und Panzeraufmärschen feindlich, der Widerstand der deutschen Grenadiere und Panzer ist ungewöhnlich geschickt und ungewöhnlich hartnäckig, geschickter jedenfalls und hartnäckiger, als Eisenhower und Montgomery das angenommen hatten. Diese Tatsachen also kann Montgomery mit einigem Recht für sich anführen. Aber schließlich, es sind nun fast sieben Wochen seit dem Beginn der Invasion vergangen – Montgomery hat eine ganze Heeresgruppe, also eine ungeheuer kraftvolle Streitmacht zu seiner- Verfügung, er hat sogar von der im Südosten Englands stehenden Heeresgruppe Patton Divisionen bekommen, die ursprünglich gewiss nicht für ihn bestimmt waren, er hat die unbedingte Luftüberlegenheit – mit all dem verstrickt er sich doch immer wieder von neuem in den Kampf um Waldstücke und Gehöfte, mit all dem steckt er immer noch im Bereich der Taktik, in dem Gefechtsrahmen der Divisionen, und nicht in der Strategie.
Es müssen also doch wohl noch andere Gründe zu den eben angeführten hinzukommen, das Steckenbleiben der amerikanischen ersten und der britischen zweiten Armee zu erklären. Vielleicht kommt man der Aufhellung der Gründe für das Verzetteln der Offensive Montgomerys näher, wenn man heute eine kurze amtliche Mitteilung liest, die der General Eisenhower herausgegeben hat: Soundso viel tausend Flugzeuge, sagt er, sind gestern über den Invasionsbrückenkopf aufgestiegen und soundso viel tausend Tonnen Bomben haben sie wieder abgeworfen. Man sieht förmlich den Stolz des Generals, mit dem er diese Zahlen betrachtet – und plötzlich weiß man alles.
Da oben in der Führung der Westmächte sitzen Generale, die genau so wenig wie die politische Führung dieser Länder begriffen haben, was sich in Wirklichkeit seit 1917 verändert hat. Man erinnert sich an das Vorgehen Nivelles und Haigs 1917. Zehntausend Granaten auf den Quadratkilometer deutschen Frontabschnitts sind zu wenig? Dann muß man eben zwanzigtausend, dreißigtausend, vierzigtausend nehmen. Und hinterher wunderten Nivelle und Haig sich, daß sie immer noch nicht weiterkamen. Es ist jetzt nicht anders. Noch immer sind die Generale der Westmächte Anbeter der Zahlen. Sie rechnen sich auf dem Papier Divisionen, Batterien, Luftgeschwader zusammen und dann meinen sie, so müsse es nun gehen. Aber so geht es keineswegs immer – jedenfalls nicht gegen das deutsche Heer, das nun einmal auch in dieser vorübergehenden Periode der technischen Unterlegenheit das beste der Welt bleibt. Noch immer gibt sich die Göttin des Sieges nur dem Mann des kühnen Wagnisses hin und nicht dem, der seine Entschlußkraft in der kalten Rechnung erstickt.
Zu Beginn der Zwanzigerjahre erschien ein Buch, das in Sätzen voller schwungvollem Pathos die Führung der Westmächte im ersten Weltkriege verdammte, weil sie in Stupidität und Engherzigkeit nichts anderes gewusst habe, als in frontalem Anrennen gegen die deutschen Stellungen das Blut ihrer Landsleute zu verströmen, statt ihre schöpferische strategische Phantasie durch die Erfahrung zur echten Ideenfülle befruchten zu lassen. Der Mann, der diese bittere Kritik niederschrieb, hieß Winston Churchill…