Von Wilhelm Weiß
Berlin, 17. Juni –
In der Normandie strebt die Schlacht, wie es in dem Wehrmachtbericht vom 15. Juni heißt, ihrem Höhepunkt zu. Wir sind uns dabei über eines klar, daß in einem Krieg der Massenheere und der hochentwickelten Technik ein Zeitraum von vierzehn Tagen – so lange dauert das Ringen im Westen bald – nicht mehr dazu ausreicht, um Schlachtenentscheidungen von unwiderruflicher Bedeutung herbeizuführen. Zu ausgedehnt sind die Kriegsfronten geworden, als daß noch mit einem einzigen vernichtenden Schlag eine endgültige Katastrophe herbeigeführt werden könnte. Zu groß und tief gestaffelt sind auf beiden Seiten die taktischen und operativen Reserven, die es den Parteien ermöglichen, auch nach stellenweisen Rückschlägen und Niederlagen sozusagen das „Wiederaufnahmeverfahren“ zu betreiben. Zu systematisch sind in den Völkerkriegen des zwanzigsten Jahrhunderts alle personellen und materiellen Hilfsmittel der Nationen in den Dienst der Kriegführung gestellt, als daß es gelingen könnte, mit militärischen Eroberungen allein den Krieg zu entscheiden. Zu gewaltig ist heute das Kriegstheater, das sich über Kontinente und Meere erstreckt und das im totalen Krieg auch in seiner Totalität gemeistert werden muß, wenn der Krieg vor dem überlegenen Willen eines Stärkeren am Ende kapitulieren soll.
Auch die Invasionskämpfe an der normannischen Küste sind dafür ein Gleichnis. Die anglo-amerikanischen Streitkräfte haben zwischen der Orne und der Ostküste der Halbinsel Cotentin in einer Ausdehnung von rund 100 Kilometer einen Küstenstreifen besetzt, dessen größte Tiefe 30 Kilometer bisher nicht überschreiten konnte. Über diese Anfangserfolge sind die Invasionstruppen seit Tagen trotz heftigster Anstrengungen und trotz rücksichtslosem Einsatz von Personal und Material nicht hinausgekommen. So sehr es sich gezeigt hat, daß die deutsche Unterlegenheit zur See gegenüber der übermächtigen Invasionsflotte der größten Seemächte der Welt einen taktischen Nachteil darstellt, der auch durch starke Küstenbefestigungen nicht ohneweiters ausgeglichen werden kann, so deutlich zeigt doch schon der bisherige Verlauf der Kämpfe, daß das Gleichgewicht in dem Augenblick wiederhergestellt ist, in dem der Feind gezwungen ist, ohne den massierten Feuerschutz seiner überlegenen Schiffsartillerie mit seinen Landstreitkräften allein zu operieren und sich mit ihnen allein zu schlagen. Auch den Panzerdivisionen Montgomerys ist es nicht gelungen, die deutschen Riegelstellungen, die sich um den feindlichen Landekopf von allen Seiten herumgelegt haben, an irgendeiner Stelle zu durchstoßen, um auf diese Weise für die Expeditionsarmee, die an der Küste auf engem Raum zusammengedrängt ist, die so dringend notwendige Bewegungsfreiheit zu erkämpfen. Denn diese bildet die Voraussetzung dazu, um überhaupt eine brauchbare Ausgangslage für jene Operationen herzustellen, die der Landung selbst erst ihren strategischen Sinn geben können. Montgomery steht daher heute vor der Aufgabe, sein Invasionsheer aus der Enge des Brückenkopfes herauszuführen, um wenigstens seine allerersten Operationsziele erreichen zu können.
Es besteht aber nun kein Zweifel, daß die gegenwärtige militärische Situation für die Invasoren durchaus unbefriedigend sein muß, solange die Stellung in der Tiefe der Seinebucht von den beiden Hafenstädten Cherbourg und Le Havre, seewärts vorgeschoben, flankiert wird. Solange diese wichtigen Häfen mit ihren für die Ausschiffung des notwendigen schweren Kriegsmaterials erforderlichen Anlagen nicht im Besitz des Feindes sind, wird auch die Organisation des Nachschubs, der zurzeit zwischen Caen und Sainte-Mère-Église sich mit unzulänglichen Landeplätzen behelfen muß, in zunehmendem Maße schwieriger. Je zahlreicher die Divisionen sind, die in diesem Raume ausgeladen werden, desto mehr nähert sich die militärische Lage einem Zustand, in dem das Meer im Rücken der feindlichen Front aufhört, lediglich eine vorteilhafte Gelegenheit für die Sicherstellung des Nachschubs zu sein.
Der Ablauf der Invasion hat sich bisher nicht an den Fahrplan Eisenhowers gehalten. Vielleicht hat die deutsche Abwehr damit jetzt schon mehr erreicht, als sich heute übersehen läßt. Auch die Schlacht im Westen folgt sichtlich Gesetzen, die weder von den Grundlehren der Kriegführung noch von der Erkenntnis zu trennen sind, daß der Krieg, der heute an allen Fronten Europas geführt wird, strategisch als eine Einheit betrachtet werden muß. Die Anglo-Amerikaner haben die seit Jahren von Moskau geforderte zweite Front nunmehr eröffnet. Aber der militärische Sinn dieses Unternehmens kann auch für den Gegner nicht darin bestehen, die Invasion um der Invasion willen zu machen, sondern eine Entscheidung zu erzwingen. Auch das bisherige Landungsunternehmen kann daher nur als ein Bestandteil eines größeren Plans angesehen werden, nach dem der feindliche Oberbefehlshaber im Westen offenbar zu operieren gedenkt. Die 20 bis 25 Divisionen, die Montgomery in der Normandie bisher an Land gebracht hat, sind nur ein Teil der Streitkräfte, die Eisenhower in England für seinen Feldzug in Westeuropa bereitgestellt hat. Eisenhower selbst bezeichnete in einer Erklärung vor wenigen Tagen die gegenwärtige Landung nur als einen Teil „des weit größeren Projekts des kombinierten Sturmangriffs der Sowjets von Osten und der alliierten Streitkräfte vom Mittelmeer aus gegen die Festung Deutschland.“ Diese Äußerung mag uns auch eine Erklärung für die wohlüberlegte Reaktion sein, die die Landung bisher auf deutscher Seite militärisch ausgelöst hat. Für die große Schlacht, die in den kommenden Wochen in Westeuropa ausgetragen wird, bildet der Raum diesseits und jenseits des Kanals gewissermaßen einen einzigen großen und zusammenhängenden Kriegsschauplatz. Die Schlachtfelder der Vergangenheit, die noch vom Feldherrnhügel aus zu überblicken und meist an einem Tage den Sieg oder die Niederlage gesehen haben, sind heute großräumiger geworden. Sie können daher auch zeitlich nicht mehr zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang gemeistert werden. Aber die Grundgesetze der modernen Strategie sind im Wesentlichen immer noch dieselben wie in den Zeiten Prinz Eugens oder Moltkes. Es kommt auch heute noch darauf an, die Kriegführung als eine Kunst zu beherrschen, in der derjenige Meister bleibt, der es versteht, den Gegner auch geistig unter seinen Willen zu zwingen. Es besteht daher kein Zweifel, daß wir im Augenblick uns auf dem westlichen Kriegsschauplatz mitten in einer Entwicklung befinden, in der der Aufmarsch der Streitmacht Eisenhowers noch keineswegs zum Abschluß gelangt ist. Und ebenso verständlich ist es, daß demgemäß auch die Entschlüsse der deutschen Kriegführung von Überlegungen bestimmt werden, die über den Ereignissen an der Orne und am Vire keinen Augenblick die operative Gesamtsituation aus dem Auge verlieren.
Die letzten Berichte des Oberkommandos der Wehrmacht lassen deutlich erkennen, daß die Entschlüsse der deutschen Führung stets die gesamte Kriegslage planmäßig berücksichtigen und einkalkulieren. Es ist durchaus nicht so, als ob der entschlossene Versuch, Deutschland in diesem Kriege den Zwei- und Mehrfrontenkrieg zu ersparen, nach dem sichtbaren Erfolg in der ersten Kriegshälfte nun im fünften Kriegsjahr am Ende doch misslungen wäre. Denn es ist ein Unterschied, ob die Abwehrfronten des Reiches so wie im ersten Weltkrieg von Anfang an der zusammengefassten Offensivkraft der feindlichen Einkreisung gegenüberstehen, oder ob es die Kriegskunst Adolf Hitlers den Feinden im Westen und Osten nur erlaubt, einer nach dem anderen sozusagen Zug um Zug zum Angriff anzutreten. Um heute noch den von Eisenhower angekündigten „kombinierten Sturmangriff auf die Festung Deutschland“ von Osten und Westen gleich erfolgreich zu koordinieren, dazu ist in den zurückliegenden Jahren dieses Krieges zu viel passiert, was nicht wieder rückgängig gemacht werden kann. Gewiss ist der deutsche Angriff, der im Osten vor drei Jahren begann und der die siegreichen deutschen Heere bis vor Moskau und bis an die Wolga führte, heute im Wesentlichen wieder bis an seine Ausgangsstellungen zurückgekehrt. Aber erst dieser Vorstoß in die Weite des russischen Raumes hinein erlaubte uns den Rückzug von Stalingrad bis Czernowitz ohne Substanzverlust. Umgekehrt kann die Angriffsdrohung, die heute von den sowjetrussischen Massenheeren ostwärts der Karpaten ausgeht, für das Reich nie mehr so gefährlich werden, wie sie sein würde, wenn heute im Osten ein ungeschwächtes, nicht durch drei Feldzüge dezimiertes bolschewistisches Heer zum Überfall bereitstünde. Wir sind die letzten, die geneigt wären, die ungeheure Gefahr zu unterschätzen, von der die europäischen Kernlande durch den Bolschewismus und seine gewaltige militärische Macht bedroht sind, aber wir wissen daher auch, daß die drei Jahre währende erfolgreiche Abwehr des Feindes im Osten gleichzeitig eine Vorentscheidung darstellte für die heutigen Kämpfe im Westen.
Die Machthaber im Kreml folgten nur ihrem primitiven Instinkt, als sie schon im Jahre 1942 von ihren westlichen Bundesgenossen die alsbaldige Eröffnung der zweiten Front forderten. Die Aufgabe, den Gegner durch einen getrennten Aufmarsch, sozusagen auf Distanz, in die Zange zu nehmen und in konzentrischer Entscheidungsschlacht vereint zu schlagen, vermochte noch ein Moltke auf dem verhältnismäßig kleinen Kriegstheater des 19. Jahrhunderts zu meistern. Die ins Gigantische übertragenen Maßstäbe des modernen Krieges würden Eisenhower und seine militärischen Kollegen im Osten und Süden Europas auch dann noch vor eine unlösbare Aufgabe stellen, wenn wir es bei ihnen mit lauter Moltkes zu tun hätten und wenn nicht zwischen ihnen und ihrem großen Kriegsziel heute nahezu fünf Jahre Krieg stünden. In diesen fünf Jahren sind militärische Tatsachen geschaffen worden, über die auch die Offensive der-Invasionsmächte nicht hinwegbrausen kann. Als im Jahre 1941 die deutsche Wehrmacht gegen Sowjetrussland, das seinen Aufmarsch noch nicht vollendet hatte, zum Angriff antrat, da konnte sie es in einem Augenblick, in dem sie nach der Niederlage der demokratischen Mächte im Westen rückenfrei war. Die Kriegslage ist heute umgekehrt nicht mehr die gleiche. Aber selbst wenn der Feind im Osten heute wieder zur Offensive übergeht, so ist es doch ein Feind, dessen Stärke, aber auch dessen Schwäche wir in drei Kriegsjahren genau kennengelernt haben. Vor allem aber hat sich für unsere westlichen Feinde selbst die Lage grundlegend geändert. Ihre Hoffnung, daß das Reich im Kampfe gegen die bolschewistische Militärmaschine verbluten würde, hat sich nicht erfüllt. Sie müssen vielmehr jetzt das Gegenteil für sich selbst befürchten. Die hartnäckige Abwehr der Invasion durch die tapferen deutschen Soldaten kostet den anglo-amerikanischen Angreifern heute schon so viel Blut, daß sie selbst im günstigsten Fall nur einen Pyrrhussieg erhoffen könnten, der sie der sowjetrussischen Übermacht in Europa auf Gnade und Ungnade preisgeben würde.
Wie man auch die Kriegslage betrachten will, die Perspektiven für die Invasoren im Westen sind heute nicht besser geworden, als sie es vor der Landung waren. Der Krieg war schon früher kein reines Rechenexempel. Und der totale Krieg, in dem die letzten und die höchsten Energien der Völker mobilisiert werden, ist es erst recht nicht. Dieses fünfte Kriegsjahr, in dem die Ereignisse ihrem Höhepunkt zutreiben, wird, wenn uns nicht alles trügt, den Triumph einer Kriegskunst erleben, die am Ende kriegsentscheidender sein wird als das ganze Aufgebot von Masse und Material, mit dem unsere Feinde zu siegen hoffen. Zu dieser Kriegskunst Adolf Hitlers haben wir ein unbegrenztes Vertrauen, weil sie nicht nur mit militärischen Faktoren, sondern auch mit allen jenen geistigen Unwägbarkeiten zu rechnen weiß, deren sichere und psychologische Einordnung in die Gesetze der Kriegführung die Voraussetzung für den Erfolg bildet. Oder wie es ein bekannter neutraler Militärschriftsteller kürzlich ausdrückte: „Jeder Kampf ist letzten Endes ein psychologischer, er geht gegen die Seele der feindlichen Führer und Truppen.“
Gegen die Seele des Feindes in erster Linie richtet sich auch der neuartige Angriff der deutschen Waffen, der gestern gegen die britische Hauptstadt begonnen hat. Mit diesem Einsatz trifft die deutsche Kriegführung den Feind in einem Augenblick, in dem er alle Kraft darauf verwenden muß, seine militärischen Machtmittel in der soeben begonnenen Offensive über den Kanal zu entfalten. Der Entschluss der deutschen Führung war daher offenbar ebenso sehr von militärischen wie von psychologischen Überlegungen bestimmt. Wie immer, so hat auch diesmal wieder der deutsche Feldherr mit souveräner Ruhe den Zeitpunkt abgewartet, der am geeignetsten schien, um mit der lange vorbereiteten, gewaltigen Verstärkung der kriegstechnischen Waffenwirkung zu beginnen. Dabei sind wir uns wieder über eines klar: Die Verwendung neuartiger Waffen an sich ist nicht kriegsentscheidend. Es kommt immer darauf an, wie und von wem sie bedient werden. Der Geist und das soldatische Gesetz sind maßgebend, unter dem eine revolutionäre Waffentechnik stehen muß, wenn sie sich erfolgreich auswirken soll. Der Lärm der schweren Detonationen; von dem zurzeit die Insel erfüllt ist, ist nur der Widerhall jenes revolutionären nationalsozialistischen Geistes, der niemals bereit sein wird, vor einer alten, das deutsche Volk missachtenden Weltordnung die Waffen zu strecken.
Die Welt steht heute im Banne des Ereignisses, dessen militärische Tragweite wir heute nur ahnen können. Wir denken nicht daran, vorzeitige Spekulationen damit zu verknüpfen oder uns unsachlichen Illusionen hinzugeben. Eins jedoch dürfen wir mit Genugtuung feststellen, daß jedenfalls auf dem Gebiete der Waffenentwicklung wieder einmal die Initiative auf unserer Seite sich befindet. Auf der britischen Insel aber ist man gezwungen, sich für die nächste Zeit dem Gesetz unterzuordnen, das die geistige Überlegenheit der deutschen Führung ihr wieder auferlegt hat.
Ahnungsvoll schrieb unmittelbar nach Beginn der Invasion eine britische Zeitschrift:
Wir sind der Meinung, daß es besser gewesen wäre, die Sicherung des englischen Mutterlandes mit aller Kraft zu versuchen, als den Versuch zu unternehmen, einen Feind außer Aktion zu setzen, dessen Kraft, sich kampffähig zu erhalten, weit größer ist als unsere Kraft, ihn zu vernichten.
Was an uns liegt, wird geschehen, damit diese britische Stimme recht behält.